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Improvisation

Eine Kunst

www.twitter.com / @IrenaBuzarewicz
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Gutes Improvisieren ist eine Kunst, die auf verschiedensten Gebieten im Leben sehr nützlich ist.

 

Ich lernte zum Beispiel als Kind von meinem unverwüstlichen Opa, dass man aus einem hässlichen, unabsichtlich auf dem schönen Wasserfarbenbild entstandenen Klecks mit etwas Mut, gutem Willen, Geschick und Fantasie immer noch "etwas machen" kann: eine Wolke, eine ungeplante Blume, einen Berg, einen Hut, einen Vogel - womit das Bild sofort gerettet wird.

 

In so einem Katastrophenfall durfte ich oft meine Rettungsmaßnahmen an den vermeintlich verdorbenen Bildern meiner Kindergartenkollegen ausprobieren. Kippelnde und schwappende Malwassergläser; tropfende Pinsel; Fehlleistungen beim Malen selbst; falsch gemischte Farben, die nur noch wie "Dreck" aussahen - das alles waren Ursachen solcher Bilderschäden. Meistens klappte die Rettung und alle waren zufrieden. Auf die Frage der Erwachsenen, was denn der riesige Käfer zum Beispiel neben einem Wohnhaus täte, sagten wir dann immer: "Das sollte so werden." Und damit war der Keks gegessen. Und alle hatten was fürs Leben gelernt. Nämlich?

 

Diese Lebensphilosophie, grob gesagt aus Scheiße Gold zu machen oder es wenigstens anzustreben, das hat mich immer schon begeistert und meinen Sportsgeist geweckt. Denn mit etwas SEHR GUTEM dann SEHR GUT klarkommen - das ist schließlich keine Kunst. Doch aus einer wirklich verrissenen Kiste etwas zu machen - das schon. Improvisation als positive Herausforderung. Motto: (fast) nichts ist so schlimm, dass nicht doch noch irgend etwas gehen kann. Weil ja Aufgeben keine Option ist. Jedenfalls nicht, ehe man alle anderen Register gezogen hat. 

 

Apropos verrissen, Kiste und Keks: auch beim Kochen und Backen funktioniert diese Rettungstechnik meistens - solange nichts stark angebrannt oder wirklich verdorben ist. Und man willens und in der Lage ist, seinen ursprünglichen Plan wirklich zu vergessen.  Ich habe zum Beispiel mal aus zerfallenen, hackfleischgefüllten Paprikaschoten eine feine Pastasoße gemacht. Auch ein innerhalb des altersschwachen Backofens leider abgestürzter, zermatschter Obstkuchen wurde in eine Gugelhupfform umgefüllt und dann daraus eine Art englischer Teekuchen gebacken - war gut. Auch bei der Verwandlung so mancher "Hornzsche" in ein einigermaßen funktionales, gemütliches Zuhause war Improvisation die Grundlage, auf der gehandelt wurde. Vor allem gelernte DDR-Bürger wissen, was gemeint ist.

 

Es gibt nicht nur Dinge, sondern auch Situationen, die sich anders entwickeln als erwartet. Wenn man dann auf die geplante Vorgehensweise nicht zurückgreifen kann, dann muss - improvisiert werden. Zum Beispiel beim Reisen, mit den Kindern, bei der Arbeit oder - in der Liebe. Ideenreichtum und Mut sind hier gefragt, doch auch eigene Grenzen zu kennen ist wichtig. Was man erst lernen muss, manchmal sehr schmerzlich.

 

Doch nur, wer immer in sicherer Deckung bleibt, dem passiert niemals etwas. Der bleibt aber auch unter seinen Möglichkeiten, weil er nichts TUT - weswegen das hier nicht zur Debatte steht bei uns in der TÄTERwerkstatt. Wo wir uns ja nicht zu Tode langweilen wollen, sondern das Abenteuer suchen :-).

 

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Manchmal entstehen aus diesen "Rettungsversuchen" völlig neue Dinge. Siehe Kintsugi zum Beispiel. Oder in der Musik, auf der Bühne, in der betrieblichen Instandhaltung, im Garten, während des QS-Audits, in der Wissenschaft - im ganzen Leben.

 

Und das - ist dann auch schon wieder ein Glück. Unterschieden werden muss aber immer zwischen einer wirklichen Änderung der Sachlage (schwarzer, nicht entfernbarer Klecks verunstaltet Bild) oder einer momentanen Verlegenheit (Orginal-Ersatzteil ist nicht verfügbar). Verlangt die Situation eine grundsätzliche, abschließende Lösung oder wird nur momentan eine Überbrückung gebraucht?

 

Denn zu improvisieren heißt ja nicht, sich mit schlechteren, halbfertigen Lösungen zufriedenzugeben und schlampig zu arbeiten oder gar faul zu sein, sondern nur, aus der momentan misslichen Lage das Beste zu machen. Damit es überhaupt weiter geht.

 

Merke auch: nichts ist beständiger als das Provisorium. Deshalb sollte man Übergangslösungen, die nicht für die Dauer gedacht sind, wirklich im Auge behalten und sie in angemessenem Zeitraum durch eine endgültige Lösung ersetzen.

 

Nicht immer klappt das. Dazu noch eine kleine Geschichte.

 

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Meine Urgroßeltern mütterlicherseits wollten aus Jena, wo mein Uropa damals arbeitete und die junge Familie lebte, unbedingt wieder nach Leipzig zurück. Denn beide Urgroßeltern waren gebürtige Leipziger, liebten ihre Heimatstadt.

 

Zum damaligen Zeitpunkt -  es war um das Jahr 1910 herum - war es für die Familie schwer, eine geeignete Wohnung zu finden. Leipzig boomte, war gerade mit knapp 600.000 Einwohnern viertgrößte Stadt in Deutschland geworden. Immer mehr Menschen kamen her, wollten hier arbeiten und leben. Dafür musste auch jeder irgendwo wohnen, dementsprechend knapp war der verfügbare Wohnraum.

 

Jena war zwar Jena und nicht Leipzig, aber dort bewohnte man zu dritt in einer sehr feinen Gründerzeitvilla mit riesigem Garten eine ganze Etage. In Leipzig aber wurde es unter den gegebenen Umständen eine große, doch im Vergleich zu dem Jenaer Domizil lange nicht so schöne Wohnung im Leipziger Osten, ohne Garten oder Balkon. Dafür mit einer Bäckerei am Ende des Hofes.  Meine Uroma war damit nicht besonders glücklich, man zog aber trotzdem um.

 

Überliefert in meiner Familie sind die damaligen Worte meines Uropas zu seiner Frau: "Das - ist doch nur provisorisch."

 

Es kamen zu dem schon vorhandenen Kind noch drei weitere dazu, das letzte war meine Oma. Die goldenen Zwanzigerjahre zauberten meine damals immer noch hübsche Uroma in kürzere Kleider. Dann kam der Erste Weltkrieg, dann kam eine Wirtschaftskrise; kamen die Nationalsozialisten; kam noch ein Weltkrieg mit Bombennächten daheim, Toten und Verletzten an den Fronten;  eine harte Nachkriegszeit, dann die DDR.

 

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Die Familie und schließlich noch das Elternpaar lebte mehr als vierzig Jahre in dieser Wohnung, die doch nur ein Provisorium sein sollte ...