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Alles Nazis außer Mutti - wer sind wir?

Ein Streitgespräch: der Unterschied zwischen deutscher und dänischer Sozialdemokratie

https://taeterwerkstatt.jimdofree.com/2020/07/13/alle-raus-au%C3%9Fer-rapunzel/
https://taeterwerkstatt.jimdofree.com/2020/07/13/alle-raus-au%C3%9Fer-rapunzel/

 

"Alles Nazis außer Mutti", so kann man teilweise die öffentliche Debatte über deutsche Identität, die Verteidigung eigener Werte und des Nationalstaats, die Wahrnehmung politischer Inhalte zusammenfassen. Diese Abwandlung eines etwas drastischeren Böhse-Onkelz-Textes von 1993 wurde schon vom Kabarettisten Uwe Steimle zur Charakterisierung gegenwärtiger Zustände genutzt. Gut lassen sich Andersdenkende immer mit dem Nazi-Argument in die rechtsextreme Ecke stellen. (Es erinnert mich an eine Leipziger Hauswand vor Jahren, siehe Bild oben. "Alle raus - außer Rapunzel". Nur sie blieb am Ende übrig. Geschichte HIER.)

 

Was aber, wenn beispielsweise Sozialdemokraten ähnliche Standpunkte vertreten wie die AfD, teilweise sogar weitergehende? Natürlich, in Deutschland (offiziell) undenkbar. Dänemark aber hat eine sozialdemokratische Regierung, die eine klare Einwanderungs- und Integrationspolitik betreibt. Damit schützen diese Politiker ihr Land und ihre Bevölkerung, treten für die dänischen Interessen ein. Sind sie deshalb keine richtigen Sozialdemokraten, vielleicht sogar rechtsradikal? Stellt man die Frage so, dann sieht man, wie absurd und hysterisch so manche bei uns im Land geführte Diskussion über ähnliche Inhalte und die Verunglimpfung von Menschem mit anderer Meinung sind. Aktuelles Beispiel: das gerade diskutierte Parteiausschlussverfahren gegen die Linke Frau Dr. Sahra Wagenknecht.

 

Sehr interessant auch, wie die deutsche Sicht eines Sozialdemokraten auf die aktuelle Lage ist. Lies hier ein Interview, was der NZZ-Journalist Hansjörg Friedrich Müller mit den beiden Vertretern ihrer sozialdemokratischen Parteien vor einigen Tagen führte. Das sind der Däne Rasmus Stoklund, Migrationsverantwortlicher der sozialdemokratischen Regierungspartei in Dänemark und der Deutsche Ralf Stegner, Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag Schleswig-Holstein.

 

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Ich war gespannt, wie Herr Stegner hier argumentieren würde. Und was passierte? Eigentlich nichts Neues, aber mich (Schaf) hat es wieder erschüttert. Für uns Deutsche gelten andere Maßstäbe als für andere Länder. Begründung: Länder wie Dänemark sind "stolze Länder", die Deutschen dagegen haben sich ihre Demokratie nicht selbst erkämpft. Die Demokratie wurde ihnen von den Alliierten gebracht, nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind schuldig, ein ewiges Tätervolk.

 

Nein!

 

Dazu denke ich: die heute in Deutschland Lebenden sind nicht daran schuld, was vor 80, 100 oder 1000 Jahren geschah. Sie haben aber die Verpflichtung, aus ihrer Geschichte zu lernen und sich entsprechend zu verhalten. Respektvoll, verantwortungsbewusst, tolerant. Daraus eine Verantwortung für die Welt, eine Art Wiedergutmachungspflicht der folgenden deutschen Generationen für andere abzuleiten, finde ich nicht richtig. 

 

Außerdem hat Herr Stegner wohl den Osten vergessen.

 

Hier kam mit den Alliierten nach 1945 keine Demokratie, sondern der Stalinismus. Auch die 1949 gegründete DDR war kein demokratisches Land, sondern ein von Moskau abhängiges. Dann wurde 1989 eine Diktatur gestürzt und, ja - eine Demokratie erkämpft. Wenn auch weitestgehend friedlich.

 

Vielleicht reagieren deswegen einige der "diktatursozialisierten" Ostdeutschen wie ich so sensibel auf die derzeitige Regierungspolitik, weil ihnen nicht dauernd irgendwas "gebracht" wurde.  Weil der Erhalt bzw. die Erlangung bestimmter Werte, bestimmter Freiheiten und Möglichkeiten nicht selbstverständlich, dafür aber so manche Gefahr im Alltag der Familien gegenwärtiger war als in den alten Bundesländern.

 

Dass es auch ganz anders geht, zeigen uns mittlerweile viele Länder Europas. Zum Beispiel eben Dänemark. Hören wir ihnen doch mal zu und spielen wir nicht weiter den Vorreiter der Demokratie. Denn das sind wir nicht. Es reitet schon lange keiner mehr hinter uns her, aus Gründen. Wir Deutschen sind auf dem falschen Weg unterwegs. Nur zahlen dürfen wir immer wieder, immer noch. Unsinnig.

 

Und hier wie immer in der kleinen Freitagspresseschau erst ein Zitat und dann der ganze Artikel zum Nachlesen hinter dem roten Button.

 

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NZZ/08.06.2021/ Auszug aus einem Interview mit dem dänischen Sozialdemokraten Rasmus Stoklund und dem deutschen SPD-Politiker Ralf Stegner:

 

 

 

Pragmatismus oder Verrat an den eigenen Idealen? Der deutsche Sozialdemokrat Ralf Stegner und der dänische Genosse Rasmus Stoklund streiten über Kopenhagens Migrationspolitik

 

 

Die Asyl- und Integrationspolitik der dänischen Sozialdemokraten ist strenger als vieles, was in anderen Ländern Europas von Konservativen gefordert wird. Gibt der Erfolg den Dänen recht? Oder begehen sie eine Sünde wider die sozialdemokratische Seele?

 

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Stoklund: "Wenn es um Integration und Assimilation geht, liegen wir gar nicht so weit auseinander. Da geht es mehr um die Frage, wie man diese Wörter definiert. Und natürlich stimme ich Ihnen zu, wenn Sie sagen, dass Menschen nicht zum Spass fliehen. Aber ich sehe auch, dass wir in Dänemark in den letzten Jahren mehr als die Hälfte der Asylbewerber zurückweisen mussten, weil sie sich als Wirtschaftsflüchtlinge erwiesen hatten. Ich kann verstehen, dass sie ein besseres Leben wollten, aber das ist kein Asylgrund. Solche Fälle kosten uns sehr viel Geld, denn oft haben diese Leute ihre Papiere weggeworfen, so dass es Monate oder gar Jahre braucht, bis feststeht, dass eine Person kein Recht auf Asyl hat."

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Stegner: "In Deutschland brauchen wir keine Leitkultur, denn wir haben eine Verfassung, in der die Werte aufgeführt sind, die für alle gelten, etwa Religionsfreiheit, Gleichberechtigung oder Pressefreiheit. Gibt es einen Konflikt zwischen Religion und Recht, kommt zuerst das Recht. Wir wollen, dass Buben und Mädchen in der Schule Schwimmen lernen, auch wenn die Eltern das nicht wollen. Aber eines ist in Deutschland anders als in anderen Ländern Europas: Wir haben unsere Demokratie nicht selbst in einer Revolution erkämpft, sondern sie wurde uns von aussen durch die Alliierten gebracht. Deshalb müssen Minderheitenrechte bei uns eine andere Rolle spielen als in einem skandinavischen Land mit stolzen Traditionen."

 

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Bild: https://sorchajdoyle.files.wordpress.com/2011/11/rapunzel1.jpg
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