· 

Alle raus außer Rapunzel!

Eine Leipziger Botschaft

 

Vor Jahren - ich war gerade innerhalb meines Studiums zu einem mehrmonatigen Praktikum in Leipzig - da fand ich unterwegs in der Stadt eine spezielle Wand. Die Mauer eines leeren Wohnhauses im Leipziger Osten, in Reudnitz, paar Minuten weg vom Regina-Palast. "Meinem" Kino als Kind, gleich um die Ecke von zu Hause.

 

Diese  Wand war bemalt und beschrieben. Ich habe damals kein Foto gemacht. Handys gab es noch nicht und einen richtigen Fotoapparat hatte ich zwar oft, aber nicht immer dabei. Deswegen habe ich Dir das Szenario nachgemalt, oben auf dem Bild. So ungefähr sah es aus, links und rechts daneben noch mehr. Von verschiedenen Leuten zu verschiedener Zeit war die Wand gestaltet worden. Figuren: schön aufwändig gemachte Bilder und einfache Strichmännchen. 3D-Block-Schrift und so Hingesprühtes, fein ausgearbeitete Buchstaben und Gekrakel. Meist einzelne Worte nur. Unmissverständliche Aufforderungen? Ich las:

 

"Nazis raus!" - Na klar, damals war das auch noch so gemeint, dieses Wort. Lange, bevor dieser Begriff so wie heute für jeden benutzt wird, der eine vom linksgrünen Mainstream abweichende Meinung hat. Unkontrollierte Masseneinwanderung, Klimahysterie, Europakritik - Nazi-Schublade auf - rein mit den Aufsässigen, fertig! Ganze Nazinotstände erleben wir tagtäglich, es ist ganz unglaublich. Aber ich wollte jetzt eigentlich nicht polemisieren, sondern über die Mauer weitererzählen. Also, pass auf:

 

Damals war das ganz anders. Mit "Nazi" meinte man die Neonazis der 1990er Jahre, die es damals auch in Leipzig gab. Die sollten "raus". Unterschrieben hatte hier das eingekreiste Antifaschisten-Anarchie-A. In verblasstem Rot. Dieses wiederum wurde später durchgestrichen, weil es jemandem nicht gefiel, in blau. Der hatte dann daneben noch "raus" geschrieben (auch in blau), damit klar war, was er meinte: Linke raus.

 

Noch später, die Farbe leuchtete noch etwas, kam ein anderer, dem das alles zuviel war. Er war offensichtlich weder links noch rechts orientiert, hatte die Schnauze voll von den Krakeelern, Diskutanten und Festgelegten. Er schrieb kurz und verständlich darunter: "Alle raus". Womit dann die Sache endgültig und unmissverständlich geklärt und bereinigt wurde. Denn es waren ja nun Linke und Rechte und überhaupt alle "draußen", wo auch immer das sein sollte. Jedenfalls ist "draußen" dort, wo man selber nicht ist, in dem Fall.

 

 

Kino Regina-Palast, Dresdner Straße, Leipzig Reudnitz (www.allekinos.com)
Kino Regina-Palast, Dresdner Straße, Leipzig Reudnitz (www.allekinos.com)

 

Damit wäre nun doch der kurzatmige Dialog beendet, könnte man denken. Aber nein. Da kam noch einer des Weges, der war gerade verliebt oder ein Witzbold oder beides. Ich hätte das auch sein können, aber ich sage Dir ehrlich: in dem Fall war ich nicht schuld. Zwar war ich verliebt und hatte auch so immer jede Menge bunte Knete im Kopf, aber ich wars nicht, wirklich.

 

Derjenige nun, der es tatsächlich war, hatte unter das grimmige "Alle raus" seines Vorgängers mit knallrot ein Herz gemalt und daneben stand: "außer Rapunzel". Ich lachte beim Lesen, ich weiß es noch genau.

 

Es sollten also alle raus. Außer Rapunzel. Obwohl vielleicht gerade die "raus" gewollt hätte. Aus ihrem Turm. Ironie des Schicksals.

 

Aber nicht immer geht es im Leben danach, was wir uns momentan gerade wünschen und so wollen. Rapunzel jedenfalls war noch da, die anderen nicht. Was würde sie so alleine tun? Das lange Haar ausgiebig kämmen, Musik hören, ein Buch lesen, einen Kuchen backen, neue Klamotten anprobieren, einen BASIC-Code für ein Tennisspiel auf dem KC 85 schreiben oder ein Karussell mit Beleuchtung aus dem Metallbaukasten bauen.

 

Und dann käme auch schon der Prinz, um sie aus dem Turm zu befreien. 

 

Und jetzt weiß ich auch, wer das an die Wand geschrieben hat. Bestimmt der Prinz. Denn hätte Rapunzel sich auch aus dem Staub gemacht so wie die ganzen anderen Fraktionen vor ihr - dann wäre der Turm leer und die Mission des Prinzen im Eimer gewesen. Sicherlich hatte er seinen Ehrgeiz und wollte nicht versagen, hier so am Turm, als Prinz. Und im Osten Leipzigs gabs damals auch wirklich genug leere...Türme. Und Häuser. Und Höfe. Außerdem - wir nehmen das mal an - war der Prinz sehr erfüllt von großer Liebe. Zu Rapunzel. Sonst hätte er sich das Herzmalen ja schenken können.

 

Hat er aber nicht.

 

 

***

Robotron KC 85 (http://www.robotron-computermuseum.efb-1.de/c_kc85.htm)
Robotron KC 85 (http://www.robotron-computermuseum.efb-1.de/c_kc85.htm)

 

Weil ich doch ab und zu mal einen Fotoapparat mithatte, gibts auch paar alte Fotos. Hier einige aus der Gegend damals: Leipzig-Reudnitz, Stötteritz, Neuschönefeld. Gibts heute so nicht mehr, diese Ansichten. Heimat.

 

 

Der Maulwurf ist in der Sommerfrische und kann heute nichts beitragen. Möglicherweise übt er schriftlich Kritik. Ich werde es sehen. Vielleicht schreibt er sogar einen Kommentar?

 

***