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"Sozialraum Schlosserei"

Mystic Maintenance

Bei unserem vergangenen Glauchau-Besuch begegneten wir den imposanten Palla-Werken. Dem, was noch davon übrig ist.

 

Dieser Ort  an der Otto-Schimmel-Straße hat es mir angetan, deshalb habe ich mal geschaut, was es hier so an Informationen dazu gibt.

 

Dabei sind mir unter anderem einige ältere Fotografien aufgefallen, die schon ruinöse, aber noch nicht  abgerissene Werksteile zeigen (www.industriekultur.pfl.de) . Ein Teil davon ist im Artikel "Glauchau: Palla, Schloss und Bellini" zu sehen.

 

Eines dieser besonderen Bilder habe ich mir aufgehoben, da es mich besonders angesprochen hat. Es ist das Bild, das Du oben siehst. Gerade liegt es in A4-Farbausdruck vor mir auf dem Schreibtisch. Es heißt "Sozialraum Schlosserei" und ist 2005 entstanden. Der Fotograf ist Matthias Weinrich. Ich finde, dieses Bild hat eine eigene Geschichte verdient.

 

Den Raum und das Gebäude gibt es heute, fast 15 Jahre später, nicht mehr.

 

Ich habe selber lange in verschiedenen Instandhaltungs- und Produktionsbereichen gearbeitet. Da gehörten Werkstätten, Aufenthalts- und Umkleideräume und alle möglichen und unmöglichen Mischformen davon zum Alltag. Auch in Zuständen, die vom Bild nicht allzuweit entfernt waren. Wo aber noch Leben drin war und man nach Verbesserung strebte oder mancher auch nur so tat.

 

Der Raum auf dem Bild sieht nicht so aus, als ob er planmäßig an der Stelle, wo er ist, eingebaut wurde. Eher hat man ihn nachträglich einem Produktions- oder Lagerbereich abgetrotzt. Weil man ihn eben gebraucht hat.

 

Wenn ich das da oben sehe, möchte ich als erstes diese Bude aufräumen. Und gemeinsam mit den Kollegen einen Plan dafür machen, wie man den Raum wieder hinkriegt. (Merkst Du was: Ich will nicht vom Pferd steigen.)

 

Also Tapetenfetzen abreißen, Schutt zusammenkehren, Restmüll wie das Rohr da auf dem Tisch, die olle Kunststoffdecke, die alte Tasse (geht die noch ?), das unsägliche Kästchen auf dem ersten Spind (Was war das denn mal ?)  und was so an Lappen rumliegt, erstmal rausräumen und wegschmeißen. 

 

Dann Spinde, Tische, Stühle prüfen, ob noch einsatzfähig. Wenn ja, saubermachen. Wenn nein, weg (wir haben einen Restmüllcontainer im Hof stehen). Dann die vorhandene Elektroinstallation (Schalter / Steckdosen / Lampen / Kabel / Kabelschienen u.s.w., ...) prüfen, ob tauglich. Wenn nicht, dann reparieren. Und die Wände reinigen und streichen, in einem freundlicheren Farbton. Dann den Fußboden putzen.

 

Über die rote Lampe müsste man dann mal befinden. Ob die bleiben kann oder nicht. Wenn ja, natürlich nur nach Reinigung und Prüfung durch die Elektrofachkraft....

 

Genau so eine Lampe hatte ich früher im Kinderzimmer. Ich kann mir vorstellen, wie die Lampe auf dem Bild einst in die Schlosserei gekommen ist. Die hat Matthias oder Gerhard von zu Hause mitgebracht, dort war das die Flurlampe im Korridor der Wohnung.  Die Frau von Gerhard oder Matthias hat so lange an der Lampe herumgenörgelt, bis sie (die Lampe, nicht die Ute oder Gabi) endlich Anfang der 80er Jahre einem moderneren Modell weichen musste.

 

Dann sagte sich Matthias oder Gerhard: "Zum Wegschmeißen isse zu schade (die Lampe), deshalb nehm ich se mit uff Arbeit. Is für unseren Pausenraum genau richtig." Dann hat er die gute Lampe eingepackt und auf die Schwalbe geschnallt. In der Spätschicht, wo ab einer gewissen Uhrzeit wirklich keine lästigen Vorgesetzten mehr zugange waren, wurde das Teil installiert. Genau über dem Tisch. Da gab es jetzt gemütliches Licht. Besser als das von der Neonröhre oben drüber. Vielleicht hat genau in dieser Spätschicht, wo nicht viel los war, ein Kollege bissel restliche Tapete von zu Hause da rechts an die Wand geklebt. Damit es gemütlicher wird.

 

Leider ist das Muster nicht mehr erkennbar.

 

Vielleicht wars das:

Bild 1 / Tapete / fotocommunity.de

Bild 2 /Zierspargel: Asparagus meyerli / hornbach.ch

 

Die Kollegen waren begeistert. Bei der Beleuchtung sahen auch gleich Hackepeter und Bockwurst viel besser aus. 

 

Sicher haben sie hier oft gemeinsam gesessen. Schichtübergabe gemacht, Kaffee getrunken, gegessen und geraucht. Über die Arbeit diskutiert und wie man was besser machen kann. Über Vorgesetzte und das Fehlen notwendiger Dinge. Oder über die Neue aus der Qualitätssicherung und Hübners neuen Trabbi. Oder den letzten Ostseeurlaub und - das Wetter. Und dass in der nächsten ruhigen Spätschicht unbedingt endlich mal einer die verdammten kaputten Stühle wegbringen sollte, Himmelarschundzwirn. "Kann ja nicht so schwer sein...".

 

Ach ja.

 

Die Hackepeter- und Bockwurstutensilien waren hinten in dem kleinen Kühlschrank drin, der da an der Wand steht. Daneben links auf dem Regal (ehemals aus der Lohnbuchhaltung oder so) standen eine dunkelgelbe Kaffeemaschine und im Fach drunter eine Plasteschüssel für das dreckige Geschirr, gab ja noch keine Spülmaschine. Mit der Schüssel musste dann immer der kleinste Lehrling zum Abwaschen gehn. Wenn man das dann irgendwann nicht mehr musste, war der erste Schritt auf der Karriereleiter getan. Sicher stand hier auch eine Campingherdplatte zur Erhitzung des Bockwurstwassers.

 

Oben, auf dem Wandregal, was auf dem Bild noch stabil wirkt, gab es bestimmt ein Radio. So ein länglicher Kasten aus den 70ern, der daheim einer modernen Stereoanlage zum Opfer gefallen war und nun genau wie die Lampe den Weg von zu Hause auf Arbeit angetreten hatte (Der Weg aller irdischen Dinge, wie es schien. Entweder in die eine oder andere Richtung.). Meistens waren diese Radios von solider Qualität und haben noch jahrelang Europawelle Saar, Bayern 3 oder auch DT 64 von sich gegeben.

 

Neben dem Radio stand sehr oft eine Zimmerpflanze namens Zierspargel, s. Bild oben rechts und sorgte für Natur am Arbeitsplatz. Oder wenigstens in dessen Nähe. Ein Stück links neben dem Wandregal hing vielleicht eine ausrangierte Wanduhr.

 

Sicher gabs auch noch irgendwo eine Infotafel oder "Wandzeitung". Mit Schichtplan, Urlaubszetteln, Produktionskennzahlen, Terminen, Danksagungen für Brigadegeschenke zu runden Geburtstagen, Bestellzetteln für Werkzeuge, irgendeinem Zeitungsartikel, Ansichtskarten der Kollegen aus dem Urlaub und einem Bild mit einem meist sehr sinnigen Spruch.

 

Herdplatte, Kaffeemaschine, Radio und von Zeit zu Zeit ein Tauchsieder waren über eine Verteilung an der einzigen Steckdose hinterm Kühlschrank angesteckt. Wollte man den Tauchsieder benutzen, musste man eins der andern Geräte eben mal kurz abziehen. Damit deshalb keiner in den Staubflusen hinterm Kühlschrank rumfingern musste, hat man die Dreifach-Verteilerdose oben an der Kühlschrankrückseite an der Verrohrung aufgehangen, am eigenen Kabel. 

 

Na ja, lange her. Damals mussten auch nicht dauernd die Handys zum Laden angesteckt werden. Es gab ja noch keine.

 

Vielleicht haben die Schlosserei-Kollegen der Spät- und Nachtschicht im November 1989 hier gespannt, ungläubig und dann begeistert den Nachrichten aus dem Radio gelauscht. Als das Unglaubliche geschah und die Grenze geöffnet wurde. Als sich große Veränderungen ankündigten. 

 

Die kleine runde Glaslampe an der hinteren Wand hat möglicherweise nicht den Raum beleuchtet, sondern war eine Signallampe des Schlossertelefons. Damit die Kollegen hörten bzw. sahen, wenn einer auf dem Schlossereitelefon anrief (das stand nebenan auf dem Meisterschreibtisch, ein schwarzer oder später hellgrauer Apparat). Vor allem, wenn kein Meister da war, also so zwischen 16 nachmittags und 6 Uhr früh, war das doch im Schichtbetrieb recht hilfreich. Zumindest für den, der angerufen hat und was wollte. Zum Beispiel dringend einen Schlosser bei einem Maschinenschaden im Websaal in der Nachtschicht.

 

Ich kann mich noch an solche Signallampen-Installationen erinnern. Überall dort gut, wo es laut ist. Wenn es einer sieht.

 

Aber es ist auch heute im Zeitalter der Handys und verstärkten Erreichbarkeit nicht so einfach, des Schlossers oder Elektrikers habhaft zu werden, wenn man ihn braucht. Mit oder ohne Signallampe.

 

Die Spinde sind verlassen und wirken auch so. Traurig. Alle stehen offen, keiner ist mehr abgeschlossen. In keinem mehr wird etwas verwahrt oder gar versteckt: Arbeits- und Privatklamotten, Ersatzsocken, Deospray und Waschzeug, Taschentücher und Hustensaft, Schmerztabletten und Fußpuder, Zigaretten und Schokolade, Streichhölzer und Feuerzeuge, Westkaffee und andere illegale Getränke, Glücksbringer und Liebesbriefe, Materialreste zur privaten Verwendung und spezielle Werkzeuge.

 

An keiner Spindtür hängt innen ein Bild von Frau oder Freundin (angezogen) oder einer fremden Nackten neben der Geburtstagsliste der Kollegen. Kein doch so wertvoller Spind wird belauert, weil er vielleicht frei wird, da der Besitzer bald in Rente geht oder woanders arbeiten will. Bei keinem muss das Schloss aufgeknackt werden mit dem Bolzenschneider, weil der Schlüssel verloren wurde oder der Besitzer damit abgehaun ist.

 

Die Stühle hinten links in der Ecke sind bestimmt schon seit Jahrzehnten kaputt. Irgendwann hat sie wenigstens mal jemand vom Tisch weggezogen, damit sich nicht schon wieder einer draufsetzt. Da aber keiner Lust hatte, die kaputten Teile zu entsorgen, hat man sie erstmal in diese unauffällige Ecke gestellt. Da standen sie dann bis zuletzt. Ganz links daneben an der Wand auf dem Fußboden zwischen Wand und letztem Spind lagerte bestimmt noch ein kaputtes Radio oder der alte Bockwursttopf; da wette ich drauf. Auch wenn man es auf dem Bild nicht sieht.

 

Als das Werk geschlossen wurde, mussten auch die Kollegen der Schlosserei gehn. Jeder hat seinen Spind ausgeräumt. Vielleicht hat man sich noch ein letztes Mal an den Tisch gesetzt. Gemeinsam Kaffee getrunken und geraucht. Vielleicht hat auch einer geweint, weil er traurig und verzweifelt war. Nach Bockwurst und Hackepeter wird keinem gewesen sein. Einer hat dann noch die alte Kaffeemaschine wieder mitgenommen, ein anderer irgend etwas anderes. Hoffentlich auch den Zimmerspargel.

 

Die rote Lampe hat keinen mehr interessiert.

 

Irgendwann sind dann Leute gekommen und haben dieses alte Refugium leer geräumt. Vielleicht haben sie in dem Schutt unterm Tisch beim Wegziehen der alten Stühle noch einen alten 13er Schlüssel gefunden, die warn bestimmt auch hier früher immer weg.

 

Dann wurde dieser Raum, mit dem Gebäude ringsherum, abgerissen. 

 

Keiner muss mehr hier aufräumen.

 

Sehr schade. Würde es gerne machen. Mit Dir. Und einigen von Euch.

 

 

***

 

Der Maulwurf ist gerade zu unserem Kühlschrank unterwegs. Er will nachschauen, ob dort auch irgendwas hinten dran hängt. Oder etwa ein 13er Schlüssel da liegt.