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Hervorgeholt: Die Sage von der Kempenjule / Teil 2

Die Erlösung

Die Schlange Jule / www.pixabay; Dimitri Wittmann
Die Schlange Jule / www.pixabay; Dimitri Wittmann

 

Zum Ende des ersten Teils der Sage wurde Jule von der bösen Urmela in eine Schlange, eine Ringelnatter, verwandelt. Nur der Hund Szilagyi hat sie erkannt. Gemeinsam teilten sie ihr Leben und machten das Beste daraus, was ging. Darin waren sie beispielhaft.

 

Nun willst Du bestimmt wissen, wie es weitergeht ?

 

Dann erzähle ich es Dir. 

 

Freiberger Mulde, Sommer 2019. Links hinter den Bäumen versteckt liegt Burg Kempe.
Freiberger Mulde, Sommer 2019. Links hinter den Bäumen versteckt liegt Burg Kempe.

 

Wie schon gesagt, haben wir die Burg Kempe an der Mulde in Mahlitzsch das erste Mal im Sommer 2019 besucht. Wir haben Wald, hohes Gras, Brennesseln und Silberdisteln durchstreift. 

 

Burg Kempe, Sommer 2019
Burg Kempe, Sommer 2019

 

Urmelas Fluch hatte Jule in eine Schlange verwandelt. Wie bei den meisten Flüchen und Verzauberungen  gab es auch hier ein Schlupfloch, einen Ausweg.

 

Alle 100 Jahre nämlich, in der Silvesternacht, war es möglich, den Bann zu brechen.

 

Und zwar musste ein beherzter Mann das Mädchen Jule küssen, allerdings als Schlange Jule.

 

***

 

Urmela hütete ihren Bann. Alle Versuche der Befreiung waren bisher gescheitert. Die Hexe verbreitete Angst und Schrecken. Männer, die die verzauberte Kempenjule befreien wollten und sich in der Silvesternacht zur Burg begaben, verschwanden oder tauchten völlig verwirrt und schwer verletzt nach Neujahr wieder auf. Keiner überlebte das lange.

 

***

 

Zum Beispiel versuchte einst ein tapferer Schneidergeselle sein Glück. Vom Wein und dem Zuspruch seiner Kameraden ermutigt, ging er aus dem Mahlitzscher Wirtshaus in der Silvesternacht 1818 nach der Burg Kempe, um die Verzauberte zu retten. Einer musste es ja mal schaffen. Es war eine frostklirrende, schneelose und sehr dunkle Dezembernacht.

 

Auf dem Weg über die an den Rändern gefrorene Mulde, an einer kleinen Brücke, griffen plötzlich mehrere Hände aus dem Wasser nach ihm. Sie packten seinen Mantel und versuchten, ihn in das eiskalte, gurgelnde Wasser zu ziehen. Nur mit Mühe entkam er. Das Grauen sträubte sein Haar.

 

Dann musste er ein kleines, finsteres Waldstück durchqueren. Aus dem Dunkel griff ihn ein riesiger schwarzer Wolf an. Der Beherzte gewann auch hier und konnte entkommen.

 

Endlich erreichte er die kleine verfallene Burgpforte. Davor hingen lange Eiszapfen. Mit neu entzündeter Fackel wartete er mutig auf die Schlange. Da! Ein Zischen und Schlängeln. Eiskalt glitt sie durch seinen linken Mantelärmel an seiner Brust hoch. Als sie die Stelle erreichte, wo sein Herz wild schlug, verharrte die Schlange. Da war der Schneider mit seinen Kräften am Ende. Ohnmächtig brach er vor der Pforte zusammen. Die Schlange glitt davon. Ein leises böses Lachen der rachsüchtigen Hexe war zu hören. Wieder hatte sie gesiegt.

 

Jule musste nun wieder 100 Jahre warten. Was aus dem Schneidergesellen wurde, ist nicht bekannt. Auch nicht, was zu Silvester 1918 geschah. Der erste Weltkrieg war gerade zu Ende. Wahrscheinlich hatte jeder mit sich zu tun und keiner kam auf die Idee, in dieser Nacht Jule zu retten.

 

***

 

 

Im Dezember 2018 war es dann wieder soweit. Es war Silvester.

 

Auf einer Party im nahen Roßwein feierte man ausgelassen, tanzte, trank und - kam dabei irgendwie auf die alte Sage mit der Kempenjule. Es wurde wild durcheinander diskutiert. Keiner glaubte eigentlich daran.

 

Achim, ein Schmied, hatte die Geschichte schon als Kind von seiner Oma gehört. Auch war er dann oft um Burg Kempe herumgestreift und hatte die verzauberte Natter gesucht. Ohne Erfolg. Nur ein altes Armband hatte er damals gefunden, das er behielt. Manchmal nahm er es aus der Werkzeugschublade in der Garage, wo er es zwischen allerlei Ramsch aufbewahrte. Er behielt es dann immer eine Weile in der Hand und dachte an Jule und Szilagyi, den treuen Hund.

 

Das fiel ihm ein, mitten in der Silvesterparty bei seinem besten Kumpel Robert. Warum er jetzt daran dachte, wusste er nicht.  Gerade kam Robert auf ihn zu. Beide traten in den winterlichen Hof, um zu rauchen. Da lachte und klapperte es an der Gartentür. Achim glaubte es ja nicht. Kam doch da tatsächlich seine Ex Viola mit dem blöden Jonas, den sie sich angelacht hatte. Schlecht gelaunt verließ Achim die Party. Eine Weile lief er an der verschneiten Mulde entlang. Das Auftauchen von Viola hatte ihm nur den Rest gegeben. Schon von Anfang an war der Abend eigenartig. Achim fühlte sich angespannt. Jetzt genoss er die frische Luft und das Alleinsein.

 

Mit Viola hatte er abgeschlossen. Er war ihr auch nicht böse, eigentlich. Nur diesen Jonas, einen aufgeblasenen Vogel aus Waldheim, konnte er eben nicht leiden. Viola hatte sich von ihm, Achim,  getrennt, ja. Aber nicht wegen Jonas, den kannte sie damals noch gar nicht. Aber es hatte zwischen Achim und ihr immer wieder und immer öfter Streit gegeben.

 

Zuletzt hatte es gekracht, weil er eine ungeplante Sonntagsschicht zusätzlich machen musste, machen wollte. Er verstand in diesem Punkt Viola nicht, der scheinbar ihre Fingernägel wichtiger waren als der Ort, an dem er schon seit Jahren arbeitete. Wo einige seiner Kollegen seine besten Freunde waren und man beim letzten Hochwasser um jeden Meter im Werk gekämpft hatte, alle Abteilungen zusammen. Das verband ihn mit den anderen, er liebte seine Schmiedehalle, die Werkstätten und die Wege zwischen den alten und neuen Gebäuden.

 

Auch, wenn es Probleme gab, oder gerade dann. So hatte ein Wort das andere gegeben zwischen ihnen. Bis Achim zu Viola sagte, dass er am Sonntag früh lieber am Hammer stehen würde als mit ihr zu frühstücken. Weil er ihr dämliches Gelaber sowieso nicht mehr hören könne. Und das ihrer gesamten buckligen Verwandtschaft auch nicht. Basta.

 

Das hatte gesessen. Seit diesem Streit schrien sie sich nicht mehr an, sondern sprachen fast gar nicht mehr miteinander. Viola hatte wohl auf eine Entschuldigung gewartet. Aber Achim war dazu einfach nicht fähig gewesen, obwohl er wusste, das er zu weit gegangen war. Dann hatte sie ihn verlassen und war übergangsweise zu einer Freundin gezogen.

 

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Aber, ja, ehrlich: er war auch froh, dass sie weg war. Sie hatte sich schon lange falsch angefühlt für ihn. Komisch, dabei war er mal sehr verliebt gewesen in diese Frau. Ein Spruch von Oscar Wilde fiel ihm ein: "Je länger man verheiratet ist, desto weniger versteht man, wie man sich dermaßen irren konnte." Naja. Vielleicht ging es ja auch besser.

 

Schnee knirschte unter seinen Schuhen und der Atem dampfte. Er vergrub die Hände tief in den Jackentaschen, um sich zu wärmen. Da war etwas in der linken Tasche, etwas kaltes. Er zog es hervor und betrachtete, was es war. Im Mondlicht schimmerte das alte Armband, das er als Kind an der Burg gefunden hatte.

 

Da wusste er auf einmal, was er tun musste. Er rannte nach Hause und setzte sich in seinen eiskalten blauen Trabbi, Er und Holger, so hieß der Trabbi, fuhren die kurze Strecke zur Kempe. Mit dem Armband in der Hand fand er den Weg zur Burg. Holger musste am Schweizerhaus warten. Die Mulde glitzerte und plätscherte leise. War das da ein Kichern?

 

Ach was. Mutig ging er weiter. Etwas eigenartig war es schon, aber er fühlte sich auch irgendwie gut. Nichts Böses geschah ihm. Dass er das dem alten Armband verdankte, das er bei sich trug, wusste er nicht. Dieses Schmuckstück hatte wirklich einmal Jule gehört und war ein Geschenk Bertholds. Sie hatte es bei der Reparatur der Mauer vom Kräutergarten auf Kempe einst verloren.

 

Urmela, die Hexe, tobte. Sie konnte aber nichts tun, da das Armband Achim schützte.

 

An der Burgpforte angekommen, blieb Achim stehen und hörte auf das entfernte Rauschen des Flusses. Kälte streifte sein Gesicht. Sein Herz war ganz warm. Seine rechte Faust umschloss fest das Armband. Er schloss die Augen und wartete.

 

Dann spürte er die Bewegung der Schlange, aber er fürchtete sich nicht. Leicht spitzte er die Lippen und spürte eine zarte, kühle Berührung. Wie wenn er als Kind seine Buntstifte beim Malen kurz in den Mund klemmte. Du weißt bestimmt auch noch, wie sich das anfühlt.

 

Er öffnete die Augen und vor ihm stand Jule, wieder ein Mensch! Eine schöne Frau, der Freude und Übermut aus den Augen leuchteten. Sie gefiel ihm gleich.

 

Achim und Jule staunten und lachten und küssten sich das erste Mal richtig. Es war alles ganz einfach.

 

Dann gingen sie zum Trabbi, nachdem Achim Jule ihr Armband wieder angelegt hatte. Die Hexe war endlich entmachtet!

 

Zuhause feierten sie zu zweit noch ein bisschen das neue Jahr und erzählten einander von ihrem alten Leben.

 

Dann begannen sie gemeinsam ein neues.

 

Holger stand in der Garage und taute derweile ab. 

 

Wie ging es dann weiter ?

 

***

 

Jule und Achim blieben zusammen und wurden sehr glücklich. Das Armband trägt Jule immer. Vielleicht siehst Du es mal an ihrem Handgelenk, wenn sie Dir einen Kaffee oder ein Brot reicht. Sie arbeitet seit kurzem in einer Bäckerei. 

 

Manchmal, wenn beide zusammen frei haben, gehen sie zur Burg Kempe. Dabei freuen sie sich über die Hundebesitzer mit ihren schönen Tieren, die sie unterwegs treffen und denken an den treuen Szilagyi.

 

***

 

Der Maulwurf freut sich auch, und zwar über das glückliche Ende der Geschichte und den Sieg über Urmela, die Hexe! Leider hat er gestern bei der Burg keine Schlange auf dem Gemäuer gesichtet - es ist noch zu kalt.

 

***

Pawel 2019, Burg Kempe
Pawel 2019, Burg Kempe