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Gemeinsam

Arbeit und Erinnerung

 

Das Jahr hat gerade erst begonnen. Wir alle hoffen darauf, dass es gut wird für uns.

 

Doch auch die ersten Tage bringen schon Trauriges für manchen. Für mich ist es der Verlust eines sehr guten ehemaligen Kollegen, der viel zu früh starb - noch nicht siebzigjährig.

 

Seit einigen Jahren war er im Ruhestand. Eine Zeit, die sich an Jahrzehnte harter Arbeit anschließen; ihm Freude und Freiheit geben sollte. Freiheit von seiner bisherigen Anstrengung und Verantwortung, Freude an neuen Möglichkeiten, die sich nun ergeben würden.

 

Leider blieb ihm wenig Zeit. Vieles blieb sicher ungetan, unerlebt.

 

Daran denke ich jetzt und sehe ihn vor mir: sein schelmisches Lachen, seine emsigen Bewegungen, sein Einfallsreichtum sehr oft; seine Bedenken, seine Angst manchmal. Ich erinnere mich an seine Erfahrung, seine Hilfsbereitschaft, sein Verantwortungsbewußtsein für das ihm Anvertraute, seinen stabilen Humor.

 

Zu jeder Tages- und Nachtzeit ließ er mit sich reden; rief den erfolglosen Anrufer so schnell es ihm möglich war zurück, erschien außerhalb seiner sowieso schon reichlichen Dienststunden im Unternehmen, um zu helfen. Fast immer war er geduldig und beherrscht, meistens fiel ihm etwas ein in problematischer Situation. Die Arbeit gehörte nicht nur zum Leben, sie war zum großen Teil das Leben - mit all den positiven und negativen Dingen, die das dann mit sich bringt.

 

Negativ: der Stress, das Nicht-loslassen-können, die Vernachlässigung privater Dinge, der riskante Umgang mit der eigenen Gesundheit, die verminderte Lebensqualität durch fehlenden inneren Frieden; die Hektik, in die man da geraten kann, das Getriebensein, das Hamsterrad.

 

Aber auch Positives ereignet sich. Heute wird sehr großer Wert auf die sogenannte Work-Live-Ballance gelegt, also die Ausgewogenheit zwischen der Arbeit und dem sonstigen Leben. Das ist auch nicht falsch, denn die in vergangenen Jahrzehnten teilweise erwartete eigene Aufopferung des Arbeitenden hat einen sehr hohen Preis. Belastete Familien und Partnerschaften, gesundheitlicher Verschleiß, Zeitmangel für Eigenes und Schönes.

 

Doch etwas Besonderes entsteht bei dieser heftigen Arbeitsweise, etwas wird derjenige, der sich immer gut abgrenzen kann und genau darauf achtet, dass er nicht zuviel macht, niemals erleben: diese starke Verbundenheit mit der eigenen Arbeit, dem Arbeitsort mit seinen Räumlichkeiten und Arbeitsmitteln, mit den Kollegen, mit den Abläufen. Die Liebe zu den Dingen, die ein Fremder nicht versteht. Freundliche Namen, die man den Dingen gibt - auch eine Maschine kann ein "Baby" für jemanden sein. Weil man ihr mit auf die Welt half, ihr das "Laufen" beibrachte, ihr bei Gebrechen beisteht und immer besorgt um sie ist. Weil ihr Rhythmus wie ein Herzschlag ist.

 

Dieses Gefühl, wenn man außerhalb der Dienstzeiten vielleicht am Ostersonntag früh um sechs oder Freitagnacht um zwei zu seinen Kollegen kommt, um sie zu unterstützen und zusammen das zu schaffen, was der Einzelne nicht vermag - und das gemeinsame Tun dann funktioniert: die reine Freude. Wenn nicht - wenigstens geteiltes Leid.

 

Mein Kollege kannte das. Was Work-Live-Ballance ist, hat ihn nicht interessiert, obwohl er dem Leben zugewandt war und gute Zeiten sehr zu schätzen wusste.

 

Unser erster gemeinsamer Arbeitstag ist mir noch deutlich in Erinnerung und nun schon viele Jahre her. Er begrüßte mich gemeinsam mit einer Kollegin und einem Usambara-Veilchen an der Werkstatttür und sagte dann lächelnd, nachdem wir ein paar Sätze gewechselt hatten: "Es geht nur gemeinsam."

 

Das habe ich nie vergessen.

 

"Was bleibt von einem Arbeiter, wenn er stirbt? Seine Arbeit." Das stellt Werner Bräunig in seinem Wismut-Roman "Rummelplatz" fest. Und es stimmt. Auch wenn Unternehmen und ganze Branchen verschwinden, war die getane Arbeit ein Rädchen im Getriebe der Welt. In einem Umfeld, in dem man nicht über Homeoffice, Massagesessel, Diskriminierung und Tischkicker sprach, sondern darüber, wie man den Tag überstand - möglichst mit akzeptabler Leistung.

 

Die Arbeit hat nicht nur für eigenes Einkommen gesorgt, sondern dazu beigetragen, dass es weitergeht. Jeden Tag, auch unter schwierigen Umständen, oft jahrzehntelang. Die Jüngeren haben von den Älteren lernen können. Fachliches Wissen wurde weitergegeben, aber auch oft eine persönliche Haltung, die sich mit den Jahren bildete. Dass man nicht aufgibt, nicht einknickt, wenn es schwer wird. Dass man nicht jammert, nein - sich den Problemen stellt. Auch dann, wenn man ihnen (noch) nicht gewachsen ist und selten Dank zu erwarten hat.  Dass man sich gegenseitig hilft, Fehler zugeben, sich auch mal streiten und wieder vertragen kann. Dass man sich jeden Tag die Hand gibt.

 

Dass es Mut, Hartnäckigkeit, neue Ideen und Verständis gibt. Und Verzeihen.

 

Und diese große Freundlichkeit.