· 

Die reine Freude

... immer behalten

 

Bei einer der letzten Begegnungen mit meiner Mutter - keiner von uns wusste es natürlich damals, dass es so sein würde - verabschiedete ich mich von ihr vor dem Gartentor, um wieder zurück nach Hause zu fahren. Sie winkte mir zum Abschied und kam mir langsam wenige Schritte hinterher. Ich blieb stehen; sie hatte mich schon erreicht. Dann lächelte sie und gab mir diese kleine weiße Vogelfeder, die sie wahrscheinlich in ihrem Garten gefunden hatte. Ich nahm die Feder, bedankte mich, lächelte ebenfalls - und ging. Worte waren nicht nötig. 

 

Eine ganz kleine, scheinbar unbedeutende Geste. Doch in Wirklichkeit viel mehr. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt siebenundsiebzig Jahre alt und, obwohl von Krankheit gezeichnet, im Kopf völlig klar. Sie wusste genau, was sie da machte: nämlich mir eine Freude. In der auch eine Botschaft steckte: Schau hin und staune!

 

Das ganze Leben lang gelang meiner Mutter, was nach meiner Erfahrung nicht viele Menschen schaffen. Sie bewahrte sich ihre Begeisterungsfähigkeit, ihr Talent zur Freude; die Eigenschaft, etwas zu sehen, was viele andere nicht (mehr) beachteten. Jedes Kind kann das instinktiv, wenn es nur etwas größer wird. Es entdeckt die Welt und staunt über alles: das Blatt, das Wasser, den Stein, den Ball, die eigenen Finger und Zehen, ein Lied, eine Wolke - oder eine Feder. Später vergessen viele Menschen scheinbar, wie das geht: sich so rückhaltlos an dem, was uns so vielfältig umgibt, zu freuen, neugierig darauf zuzugehen, es zu betrachten, zu erfassen, wertzuschätzen.

 

In dieser so unauffälligen und doch fantastischen Erscheinungsform des Lebens wie in einer Feder steckt eine ganze Menge: eine lange Zeit der Entwicklung der Lebewesen, die diese Feder jetzt genau so in dieser Weise hervorbringen und tragen. Etwas, dass den Vogel schützt und wärmt, beim Fliegen oder Schwimmen hilft, ein Schirm für den Nachwuchs sein kann und auch ein Hochzeitskleid, um potentielle Partner zu beeindrucken. Diese filigranen kleinen Teilchen, die da aus dem Kiel gewachsen sind; diese Färbung, diese Größe - genau auf den Träger und seine Lebenssituation, seine Umwelt, die Jahreszeit abgestimmt. Vögel verschiedenster Art leben auf unserem Planeten; kleine und große, bunte und fasst unsichtbare, spektakuläre Majestäten und bescheidene kleine Sänger, Räuber und Gejagte. Auf dem Land, in der Luft und im Wasser laufen, watscheln, flattern, segeln, tauchen und schwimmen sie.

 

Manche legen jährlich tausende Kilometer zurück, um ihrem inneren Kompass zu Winter- und Sommerquartieren zu folgen. Milliarden dieser Lebewesen sind um uns herum unterwegs und gehen ihrem ganz ursprünglichen Tagesgeschäft nach. Sie schlüpfen aus dem Ei, werden erwachsen, paaren sich und ziehen Nachwuchs groß. Sie verteidigen Reviere oder leben in Gefangenschaft, gewinnen Partner, suchen Wasser und Nahrung, schützen sich vor Feinden, machen selbst Beute und sind mancherlei Gefahren ausgesetzt, der sie entgehen oder auch nicht.

 

Manchmal - verlieren sie eine einzige Feder, die man dann finden kann.

 

***

 

Ein kleines Wunder. Und das konnte meine Mutter immer sehen; verlernte es auch mit zunehmendem Alter nicht. Ich hoffe, ich habe das von ihr geerbt, denn es ist eine Fähigkeit, die beim Leben und beim Glücklichsein helfen kann. Dafür bin ich sehr dankbar.

 

***

 

Ich fand heute keine Feder, als ich bei nasskaltem Wetter in Annaberg-Buchholz unterwegs war.

 

Aber dafür den ersten Schnee - so nass, so vergänglich und doch auf seine Art - so schön.

 

 

Und hier das wunderschöne und traurige Lied von Charles Aznavour und France Gall über "La Mamma" :