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Mir selbst auf der Spur

Gestern, heute, morgen

Haustür Leipzig Reudnitz: Man sieht es noch, dass sie mal schön war.
Haustür Leipzig Reudnitz: Man sieht es noch, dass sie mal schön war.

 

Wer an die Orte seiner Kindheit zurückkehrt, der wird immer Veränderungen feststellen. Denn nichts bleibt so, wie es mal war - und die Veränderung ist wohl das einzig Beständige auf der Welt. Das ist ganz normal. 

 

Mir ist das bewusst und ich habe auch keinen (sehr) verklärten Romantik-Blick auf die Vergangenheit. Weder auf Menschen noch auf Dinge und Orte. Denn wenn man zurückschaut, sich erinnert - dann passieren Fehler. Man sieht etwas vielleicht einseitig - und die Vergangenheit, die man sich nachträglich erschafft, existierte nie als reale Gegenwart. Immer war es ein bisschen anders. Oder auch - sehr anders.

 

An meine Kindheit im Leipziger Osten, im Stadtteil Reudnitz, habe ich gute und schlechte Erinnerungen. An die Geborgenheit in der großelterlichen Familie, an die für damalige Begriffe schöne und komfortable Wohnung. Während wir später nach dem Umzug in eine andere Stadt in der elterlichen Wohnung noch Plumsklo und einzelne Ofenheizung hatten, gab es in der Leipziger Wohnung schon ein schönes Badezimmer mit rotglänzendem Kupferbadeofen, eine Etagenheizung, die von der Küche aus mit einem modernen kleinen Steinkohlekoksofen betrieben wurde und - ebenfalls etwas, das wir später nicht hatten - einen Balkon. Der war klein, aber fein und ging in den Hof hinaus. Meine Oma zog hier die fantastischsten knallroten Pelargonien, die ich je gesehen habe.

 

Im Winter stand die Kasserolle mit dem Weihnachtsbraten zum Frischhalten hier draußen, im Sommer saß man in der Sonne und roch den würzigen Geruch, den die feinhaarigen Pelargonienblätter verströmten. Noch heute erzeugt das feine Reiben eines solchen Blattes zwischen den Fingern und das Hervorlocken dieses typischen, einzigartigen Duftes bei mir sofort Wohlbefinden und inneren Frieden. So ähnlich wie der Geruch von Kümmelknackwurst, Fichtennadelschaumbad und Hagebuttentee - alles Zutaten meiner Kindheit bei Oma und Opa.

 

Schlechte Erinnerungen gab es auch: als ich größer wurde, fiel mir die Baufälligkeit einiger Häuser, Straßenzüge, ja ganzer Stadtteile in der Umgebung auf. Menschen hausten hier unter unsäglichen Bedingungen, es herrschte Wohnungsnot. Als junger Mensch an eine eigene, einigermaßen vernünftige Wohnung zu kommen, war sehr schwer. Auch für Familien galt das, was allerdings damals zu DDR-Zeiten kein Leipziger Phänomen war. Die Luft in den Straßen war dreckig durch die Industrie in der Umgebung. Ständig putzte meine Oma Fenster, oft war es dunstig. Den Begriff Smog kannte ich da noch nicht.

 

Politische Themen hielt man von dem Kind, das ich erst mal war, natürlich so gut es ging fern. Später platzte diese Idylle, man sprach in meiner Gegenwart über Geschehnisse in der Ära Stalins in Leipzig und die nachfolgenden Jahre. Über die Leute, die aus der Arbeit heraus verhaftet wurden, weil sie etwas gesagt oder getan hatten, das der Obrigkeit nicht gefiel. Ich erfuhr etwas über das Schicksal des Schriftstellers Erich Loest, der in unserer Nähe auf der Leipziger Oststraße wohnte, schnappte auch auf, dass ein Freund unserer Familie, ein evangelischer Pfarrer, "in Bautzen war". Was das hieß, kapierte ich schnell, da dieser Mann sehr oft mit einer neuen Brille versorgt werden musste und Brillen normalerweise nicht von selbst andauernd irreparabel kaputt gehen. Eine schlimme Vorstellung, dass es Leute gab, die diesem älteren, grauhaarigen, klugen und freundlichen Mann ins Gesicht schlagen durften und das staatlicherseits gedeckt war.

 

Es war diese Zeit also weit entfernt von Friede-Freude-Eierkuchen - und doch verbinde ich sehr viel Gutes mit diesen Jahren. Stück für Stück veränderte nicht nur ich mich, auch die Personen meiner Familie blieben nicht so, wie sie waren. Sie wurden älter, alt, krank, starben. Währenddessen verschwand auch die DDR, wir wurden ein Deutschland. Das war für mich ein großes Glück - so sah ich es damals und das finde ich heute noch. Ich bin überhaupt kein DDR-Nostalgiker.

 

Bautzen war Geschichte, allerdings eine, die von vielen nicht gerne diskutiert wurde. In Leipzig wurde abgerissen, neu gebaut, die Stadt wuchs und entwickelte sich. Ich war begeistert. In den Straßen meiner Kindheit gab es plötzlich italienische Restaurants, asiatische Imbiss-Stuben, Drogeriemärkte mit toller Kosmetik, eine reichhaltige Weinhandlung, wo es die für uns damals sehr exotischen und begehrenswerten Weine aus Griechenland gab. Den geharzten Retsina, den schwersüßen Samos, den herben Demestica. Gerne überraschte ich meine Großeltern mit so einer Flasche, wenn ich sie besuchte. Wir tranken sie dann am Abend gemeinsam, lachten und alberten über alles Mögliche und besprachen auch ernste Dinge. Die Entwicklung Anfang der 1990er Jahre habe ich als befreiend, gut und hoffnungsvoll in Erinnerung - obwohl es natürlich nicht nur Glanz und Erfolg gab. Leute wurden arbeitslos, hatten in damaliger Zeit und im fortgeschrittenen Alter oft kaum eine Chance auf einen neuen Job, litten unter dem Verlust von Einkommen, Anerkennung, Verantwortung. Man ging auf Montage, wechselte den Beruf oder zog ganz weg. Oder schlug sich eben irgendwie durch. 

 

So war das. Seitdem meine Großeltern nicht mehr da sind und auch die Verwandtschaft umzog oder aus Altersgründen starb, bin ich trotzdem ab und zu in Leipzig. Immer zu wenig, immer zu kurz. Aber immerhin.

 

Seit ungefähr zehn Jahren ist es für mich ganz persönlich immer unerfreulicher. Ich nehme die Entwicklung des alten Viertels nicht mehr positiv wahr. Natürlich gibt es ansehnliche Bauprojekte, schön sanierte Gebäude. Doch es ist ganz eindeutig keine Heimat mehr. Auf der Straße, wo ich einst wohnte, gibt es jetzt einen großen arabischen Friseursalon. Dann folgen eine Menge Pizza- und Dönerläden und - eine Suchttherapieeinrichtung namens "Alternative 2". Ein paar Straßen weiter liegt Müll herum, ein großes Plakat schimpft auf das Patriarchat. Ab und zu liest man den Namen Lina an den beschmierten Wänden der einst schönen, alten Gebäude. Häuser, in denen früher Bäcker, Fleischer, Konditoreien, Cafés, Haushaltwarenläden, Kneipen und Lebensmittelgeschäfte waren. Vor meiner ehemaligen Lieblingskonditorei (heute ein heruntergekommenes Mietshaus) steht eine Gruppe arabisch aussehender Jungs.

 

Immer wieder Baustellen, es tut sich auch Positives - doch was soll das am Ende für ein Stadtteil werden? Wer wird hier miteinander leben - und wie? Es ist nicht ungewöhnlich, dass Stadtteile sich völlig verändern - nicht nur in Leipzig, auch in anderen Städten sieht man das. Aus Arbeiterquartieren werden Eigentumswohnungen für Besserverdiener, aus ehemaligen Industriebrachen neue Wohnviertel mit familienfreundlicher Infrastruktur, aus Stadtrand mit Wiese Eigenheimgrundstücke. Muss ja nicht immer alles gleich schlecht sein, doch es schmerzt mitunter sehr. Vor allem dann, wenn die Veränderung nicht nur einem persönlich vielleicht missfällt, sondern auch die nüchterne Betrachtung aus sachlicher Entfernung insgesamt wenig Gutes sehen lässt.

 

Hier entlang, wir sind jetzt auf der Wurzener Straße, führte auch jahrzehntelang der Weg meines Opas zu seiner Schule, in der er als Lehrer arbeitete. Ja, in der Gegend gibt es ab und zu eine Schule, wo man sich (besonders hier im Osten der Stadt) schon immer gerne kloppte - doch es kaum ernste Verletzungen gab. Weil niemand ein Messer trug und es auch nicht üblich war, mit mehreren Leuten auf eine Person derart brutal loszugehen , wie es leider heute oft der Fall ist.

 

Einen großen Teil der Gründe für diese negativen Veränderungen kann man deutlich erkennen, wenn man will. Ersatz von Eigenleistung durch den Einzelnen durch staatliche Leistungen auch für Nichtbedürftige, ungesteuerte Zuwanderung ohne Pflichten, falsche Toleranz gegenüber fremden Kulturen, Freigabe der Sozialsysteme zur Plünderung, Weiter die dauernde Herabsetzung der eigenen Werte und die Unfähigkeit zur Verteidigung der eigenen Lebensgrundlagen.

 

Durch den Mangel an Respekt, den wir als Deutsche für uns selbst haben, können auch andere uns oft nicht respektieren. Wer sich selbst nicht achtet, wird von anderen verachtet. Wer sich nicht wehrt, wird besiegt, unterdrückt und ausgebeutet. Das war immer schon so und ist doch ganz einfach zu verstehen - eigentlich.