R. und H. - der Kuss
Nein - im Leben passiert nicht nur Bullshit, sondern auch jede Menge Schönes! Wenn es uns gerade nicht so vorkommt, ist das trotzdem wahr. Wir wissen es.
Manche Geschehnisse bleiben uns in Erinnerung, wenn wir sie selbst erlebten oder daran teilhatten. Ich will Dir heute eine Liebesgeschichte erzählen. Sie handelt von einer Frau namens R. und einem Mann namens H. .
Weil diese Geschichte wirklich wahr ist und natürlich etwas sehr Privates, deshalb habe ich die Namen abgekürzt und nenne auch keine weiteren genau zuordenbare Zeiten und Orte. Nur der eine Platz sei mir gestattet, denn der ist wesentlich. Es ist sozusagen das Zentrum unserer Geschichte.
Das ist ein großer, alter Kastanienbaum. Mitten in der alten Stadt. Genau der, den Du oben auf dem Bild siehst.
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Hier geschah eines Tages etwas Besonderes: R. und H. küssten sich unter diesem alten Baum zum allerersten Mal.
Das vergaßen sie beide sicher nie, auch nicht nach vielen Jahren.
Jede neue Liebe ist einzigartig und doch wiederholt sich alles, solange wir leben. Bei H. und R. gab es ein paar Besonderheiten, die alles nun nicht gerade vereinfachten. Das Leben nicht und diese Liebe auch nicht.
H. war wesentlich jünger als R.. Dass ältere Männer jüngere Partnerinnen haben, dazu gibt es meist keine Fragen und auch keine kritischen Blicke. Aber umgedreht? Eine reifere Frau mit einem wesentlich jüngeren Mann? Ja, hier war es nun so. Na und?
Beide hatten sich bei der Arbeit im selben Unternehmen kennen gelernt. H., ein junger, freundlicher Mann am Beginn seiner beruflichen Laufbahn, hatte sich wohl zuerst in die schöne und erfolgreiche R. verliebt. Sicher hat er am Anfang nur von ihr geträumt und nicht zu hoffen gewagt, dass diese besondere, begehrte Frau irgend etwas gerade von ihm wollen könnte.
Denn R. war tatsächlich eine Augenweide: ihre große, langbeinige, schlanke und majestätische Erscheinung zog auch in Jeans und Pulli die Blicke überall auf sich. Glattes, schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern und umrahmte ein schönes, sehr ebenmäßiges Gesicht mit wunderschönen, leicht schräg stehenden Augen. Ihre Stimme klang tief und rauchig. Ihr Lachen hörte man eindeutig aus jeder Menschenmenge heraus. Nicht nur optisch war R. auffällig, auch in ihrem Beruf arbeitete sie äußerst erfolgreich und ehrgeizig. Diese Frau hatte außer Wissen, Können und Temperament bereits jede Menge Erfahrung. Ein Vorteil.
R. war zu der Zeit schon längst verheiratet, hatte Kinder, hatte ein ganzes Leben. Doch das sollte sich nun grundlegend ändern. Denn irgendwann bemerkte sie H.. Was wann wer wo wem anvertraute, was geschah, welche Glücksmomente es gab und welche unerfreulichen Probleme gelöst werden mussten? Das lassen wir im wohltuenden Dunkel der Vergangenheit. Geht uns auch nichts an.
Tatsache ist, irgendwann trafen sich R. und H. auch außerhalb ihrer Arbeit, ganz privat.
Sie standen unter dem Kastanienbaum, sahen sich an. Und dann - küssten sie sich. Zum ersten Mal. Diesem Kuss folgten unzählige. Beide gründeten mit R.s Kindern eine neue Familie, arbeiteten weiter zusammen am selben Ort, waren beruflich erfolgreich und bewohnten eine große Wohnung in einem dunklen alten Haus. Schöne Urlaube verbrachten sie gemeinsam, die Sommer an der Ostsee waren abenteuerlich und frei.
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Viele Jahre sind seitdem vergangen. Kinder wurden erwachsen, zogen aus. Politische Umbrüche veränderten das Land, das Arbeitsleben und die tägliche Lebenssituation auch für R. und H.. Aber sie meisterten es.
Irgendwann starb R., nun weit über achtzigjährig.
H. blieb zurück.
Er hatte sich in den letzten Jahren besonders um die immer schwächer Werdende gekümmert - was auch für ihn nicht einfach war. Aber dann war R. tot - da war er plötzlich allein und vermisste sie von nun an täglich. Trotz allem, was es auch an Belastendem gab. Trotz der letzten schweren Jahre.
Als ich H. letztens traf, erschien er etwas gefasster und versuchte, sich eben abzufinden mit dem, was ist.
Er hat schöne Erinnerungen an ein langes, reiches, gemeinsames Leben mit R..
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Ob er wohl manchmal an dem alten Kastanienbaum vorbeigeht?
Gerade jetzt, im Oktober, wenn die braunglänzenden Früchte aus ihren stacheligen grünen Hüllen herausplatzen und dann einfach so auf dem Weg liegen? Vielleicht. Vielleicht macht er es - und nimmt ein paar Kastanien mit heim. Legt eine auf R.`s Grab. Oder bastelt ein Kastanienmännchen mit seinen Urenkeln. Kann sein, es ist auch alles ganz anders und er hat diesen Kuss vergessen?! Und den alten Baum.
Wer weiß das schon.
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Woher ich die Geschichte mit dem Kuss habe?
Sagen wir mal so: R. und H. kenne ich beide, seit ich ein Kind war. Eine Vertraute von R. hat mir diese Geschichte vor langer, langer Zeit erzählt. Und seitdem ich das hörte, muss ich immer daran denken, wenn ich unter diesem Baum entlang gehe.
Wir beide haben ein Geheimnis, diese Kastanie und ich.
