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Hervorgeholt: Opas Brief

Bilder und Geschichten

Horst Kramer, 1968: Leipzig, Zollikoferstraße
Horst Kramer, 1968: Leipzig, Zollikoferstraße

 

Als ich noch ein Kind war, da gab es in meinem Leben schon einen Helden. Einen stillen und freundlichen: meinen Leipziger Opa.

 

Er war Lehrer für Kunst und Biologie, arbeitete als Zeichner, Maler und Grafiker. Mit meiner Oma bewohnte er im Leipziger Osten eine schöne Wohnung und hatte einen Malerfreund mit eigenem Atelier, wohin er mich manchmal mitnahm. 

 

Zuhause saß er oft an seinem Schreibtisch, zeichnete mit schwarzen Kohlestiften oder malte Aquarelle. Eines siehst Du oben. 

 

Immer war dieser Opa freundlich, ausgeglichen und meist gut gelaunt. Er erzählte mir Geschichten. Wie er als Kind gewesen war, wie er meine Oma kennenlernte, was meine Mutter so als Kind angestellt hatte.

 

Als ich noch sehr klein war, ging er nach der Arbeit oder am Wochenende mit mir im Kinderwagen spazieren und später auf den Spielplatz. Er unterstützte interessiert meine Malaktivitäten, lobte und kritisierte mich auf Augenhöhe. Wir gingen gemeinsam ab und zu ins Museum, spazieren oder besuchten jemanden.

 

Mein Opa nahm mich ernst, das gefiel mir. Nie hörte ich von ihm Erwachsenensätze wie "Du redest, wie Du es verstehst." oder "Du bist ja nur ein Kind, später wirst Du schon sehen .... ".

 

Auch von ihm lernte ich Ehrfurcht vor der Natur, Achtung vor allen Lebewesen. Dass man nicht geistlos Pflanzen am Wegesrand herausriss oder kleine Käfer und Spinnen zertrat. 

 

Andere Familienmitglieder erzählten manchmal, dass Opa als junger Mann rebellisch, voller Widerspruchsgeist und auch manchmal jähzornig gewesen sein soll. Letzteres konnte ich mir schwer vorstellen. Denn ich kannte ihn immer schon als ruhiges, kluges Familienoberhaupt, das niemals schrie, stritt, handgreiflich wurde, Schimpfworte gebrauchte, ausrastete, unordentlich aussah, betrunken war oder sonst irgendwie aus der Rolle fiel. Unvorstellbar.

 

Eine wirkliche Vertrauensperson, ein Fels in der Brandung des auch nicht immer leichten Kinderlebens. Zuverlässig und gut.

 

Einmal schrieb er mir einen Brief, als ich als größeres Kind mit meinen Eltern längst in einer anderen Stadt wohnte.

 

In diesem Brief erzählte mein Opa mir eine lustige Geschichte von seinen Schülern, die wieder mal irgendwas Freches gemacht hatten. Was mir immer gefiel, denn auch mein Kopf war voller Streiche, Ideen und bunter Knete. Kleine Figuren tauchten zwischen seiner einwandfreien, schnörkellosen und gleichmäßigen Grafikerhandschrift auf, die das Geschehen zeigten. Ich amüsierte mich darüber sehr und war stolz, dass er, der Opa, nur an mich alleine einen Brief geschrieben hatte. Darin schickte er mit der Post nicht nur die Geschichte, sondern sprach mir auch Mut zu und wünschte mir gutes Gelingen bei dem, was ich mir so vorgenommen hatte.

 

Diesen Brief hütete ich wie einen Schatz, denn das war er für mich. Manchmal las ich ihn meinen Freundinnen vor, denen die Geschichte und die gezeichneten Figuren gefielen. Sie beneideten mich ein bisschen um diesen besonderen Opa und seinen Brief.

 

Lange Zeit trug ich dieses Papier in meiner blauen Kinderbrieftasche immer bei mir. War ich traurig oder einsam, dann holte ich das dicht beschriebene Blatt manchmal heraus und es tröstete mich immer.

 

Irgendwann kam mir dieser Brief abhanden. Wie genau, weiß ich nicht mehr. Ich kann es mir nur so erklären, dass das jahrelang geliebte Blatt vorübergehend für mich an Wichtigkeit verloren hatte, weil ich jetzt älter geworden war. Anderes forderte Aufmerksamkeit und rückte in den Vordergrund. 

 

Gerne hätte ich meinen Brief von Opa heute wieder. Ich würde das alte Blatt vorsichtig auseinanderfalten, vor mich hinlegen, glattstreichen - und endlich wieder lesen. Ich bin mir sicher: auch heute würde er wieder Trost spenden und mich zum Lächeln bringen.

 

***

 

Leider habe ich den Brief nicht mehr. Aber Opas Bilder, die sind da.