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Hervorgeholt: Die unbarmherzige Frau Käthe

Klavier um vier

 

In meiner Kindheit ging ich einmal in der Woche, immer dienstags oder donnerstags am Nachmittag, zu Frau Käthe, der Klavierlehrerin. Zum Klavierunterricht.

 

Natürlich sprach ich sie nicht so an, denn Frau Käthe war als Mitglied einer alten lokalen Industriellenfamilie schon damals Trägerin eines Doppelnamens, den ich aber hier nicht preisgeben möchte. Lange bevor ich von Damen namens Leutheusser-Schnarrenberger, Widmann-Mauz oder Aschenberg-Dugnus hörte, kannte ich also Frau Käthe. Und hatte vor ihr riesigen Respekt.

 

Sie war eine kleine, gebrechliche, wirklich alte Person. Frau Käthe hatte ein krankes, wetterfühliges Bein und einen kleinen Buckel. Ihr Gesicht war fein geschnitten, wirkte aristokratisch und war trotz der vielen Falten immer noch schön. Sicher hatte diese Frau einmal bessere Zeiten erlebt, sich großen finanziellen Wohlstands, gesellschaftlicher und künstlerischer Anerkennung erfreut. Und einer besseren Gesundheit. Früher. Jetzt war sie stark gehbehindert.

 

Da war nun, zu DDR-Zeiten, vieles anders geworden. Die alten Besitzstände und Privilegien waren Schnee von gestern, kaum einer scherte sich darum. Immer noch war Frau Käthes Familie Besitzer einer oppulenten Grabstätte auf dem Freiberger Donatsfriedhof. Diese hatte ich mal durch Zufall gefunden und war sehr beeindruckt.

 

Frau Käthe war naturgemäß keine Freundin des neuen Staates, was sie auch deutlich kundtat. Mit ihren Schimpfkanonaden verschonte sie keinen, auch Honecker und das gesamte Politbüro zog sie gerne mal kräftig durch den Kakao. Offensichtlich war ihr dieser ganze Arbeiter- und Bauernstaat äußerst unsympathisch, vorsichtig ausgedrückt. Mal bemerkte sie rebellisch, dass diese ganze Mischpoke ihr den Buckel runterrutschen könne, mal schimpfte sie über das Fehlen bestimmter Produkte in den Geschäften oder den mangelnden Kunstsinn der oberen Genossen. Im Zusammenhang mit diesem Personenkreis verwendete sie gelegentlich den Ausdruck "Jacke vollhauen".

 

Frau Käthe selbst hatte offensichtlich beste Westkontakte: stets roch es bei ihr in der Wohnung nach Jacobs Kaffee, Lenor-Weichspüler, Kaloderma-Gesichtscreme und der guten Fa-Seife. Sie benutzte ein äußerst teures und berühmtes Parfum: den Klassiker Chanel Nr. 5. Das wusste ich damals nicht, erkannte es aber Jahrzehnte später zufällig nun ganz woanders.

 

Niemals hätte ich Frau Käthes Äußerungen weitererzählt. Ich glaube, sie wusste das auch.

 

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Die Wohnung der Klavierlehrerin bot Besonderheiten, die ich noch nie in einer anderen, real existierenden Ostwohnung gesehen hatte. Erstens: mitten im Wohnzimmer, wo auch das Klavier stand, an dem sie Unterricht gab, befand sich zentral im Raum ein riesiger, schwarzglänzender, gigantischer Konzertflügel. Ein wahres Schiff. Niemals durften die Schüler auf diesem wunderschönen, edlen Instrument spielen. Das war allein Frau Käthes Privileg.

 

Zweitens hatte sie ein schwarzglänzend gekacheltes Bad. Vom Boden bis zur Decke hinauf in dieser Farbe! Damals ein bizarrer Luxus. In Zeiten, wo viele der Altstadt-Wohnungen gar keine Bäder hatten und das Plumpsklo eine halbe Treppe tiefer über den Hausflur erreichbar war. Die Bäder der Neubauwohnungen waren auch gekachelt: allerdings weiß, hellblau, hellgrün, manchmal rosa oder gelb. Niemals schwarz.

 

Aber das Unerhörteste war doch die dritte Tatsache: Frau Käthe hatte eine Haushälterin! Unglaublich. Die war zwar nicht immer da, aber doch ab und zu auch in meinem Beisein sichtbar.

 

Frau Käthe sprang ganz fürchterlich mit dieser fitten, aber ebenfalls älteren Dame um. Kommandierte sie herum, meckerte an ihren Arbeitsergebnissen und beschimpfte sie mit beißendem Spott.

 

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Vor allem an Tagen, wo Frau Käthe ihr dickumwickeltes krankes Bein wetterbedingt wieder mal große Schmerzen bereitete, schrie und schimpfte sie viel. Auch mit mir. Sie tobte, wenn ich Fehler machte und gebrauchte äußerst undamenhafte Schimpfwörter. Mich nannte sie dann "Kamel" oder "Mondkalb" und war niemals zufrieden mit meinem Klavierspiel. Schon, wenn der Schüler, den sie vor mir in der Mangel hatte, mir auf mein Klingeln hin die Wohnungstür öffnete, sah ich an seinem verzweifelten Gesichtsausdruck, dass heute ein schlechter Tag war. Ich wartete dann auf einem einzelnen Stuhl, der extra zu dem Zweck im Übungszimmer stand. Nur ein paar Meter von dem bedauernswerten Klavierschüler-Opfer entfernt. Den traktierte sie, beschimpfte ihn oft mit noch ganz anderen Begriffen als mich und entließ ihn endlich in die Freiheit.

 

Nun war ich dran.

 

Ging es gut, lobte sie mich auch mal und schenkte mir zwei Mark. Ging es schlecht, dann konnte es passieren, dass sie wutentbrannt den Klavierdenkel zuknallte und man ganz schnell die Hände von der Tastatur reißen musste, um nicht eingeklemmt zu werden. Sie schaffte es, dass man sich wie der allergrößte und unfähigste Trottel des Universums fühlte. 

 

Langweilig war es mit Frau Käthe nicht, gelernt habe ich in den Jahren bei ihr auch so einiges. Obwohl aus mir niemals ein wirklich guter Klavierspieler geworden ist. Dafür war ich wahrscheinlich nicht talentiert genug, auf jeden Fall aber zu faul.

 

Lieber als stundenlang am Klavier daheim zu üben, war ich draußen. Mit Freundinnen und Hund unterwegs, unentdeckte Orte erkunden. Abenteuer erleben. Frau Käthe nannte meinen Hund, der für mich wie eine Schwester war, übrigens abfällig "Hundevieh". Sie konnte ihn nicht leiden, weil er mich ihrer Meinung nach vom Üben abhielt.

 

Trotzdem erinnere ich mich auch an gute Stunden, in denen ich nicht angsterfüllt und steif mit eiskalten Fingern am Instrument saß, sondern wo wir gemeinsam vierhändig spielten und die Musik wunderschön und mitreißend war.

 

Besondere Tage, die uns beiden Freude brachten, Frau Käthe und mir.

 

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Heute bin ich ein großer Liebhaber klassischer Musik, auch der Klaviermusik. Chopin, Schubert, Brahms, Mozart, Bach und natürlich Beethoven. Vielleicht weil ich selbst nie gut genug für technisch sehr schwierige Stücke war, schätze ich es jetzt um so mehr, wenn andere Leute das spielen können.

 

Und das verdanke ich zu einem Teil auch Frau Käthe.