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Hervorgeholt: Leute unterwegs / Blind Date mit Claire Underwood

Die Dame im Zug

Der Zug, in dem ich sitze, fährt nach Dresden.

 

Mir schräg gegenüber sitzt eine Frau, allein. Sie erinnert mich plötzlich an Claire Underwood, die Lobbyistin, First Lady und spätere Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika - aus der Netflix-Serie "House of Cards"; gespielt von der Schauspielerin Robin Wright. 

 

Die Frau schaut zum Fenster raus und wirkt ruhig. Aber irgendwie auch nicht. Da ich mir gerne Geschichten ausdenke, überlege ich mir, was mit ihr sein könnte.

 

 

Sie ist nicht mehr jung, aber schön. Ein sportlich-eleganter Typ. Sie hat wie Frau Underwood ein markantes Gesicht und eine schicke Frisur. Und sie wirkt etwas traurig, vielleicht auch müde.

 

Sie trägt eine blazerartige Jacke, darunter ein Etuikleid. Alles gedeckte Farben, dunkelgrau/anthrazit. Ihr steht das hervorragend. 

 

Während der Zug durch den Tharandter Wald fährt, schauen wir beide zum Fenster raus. Weiter passiert nichts.

 

Aber eine Weile später, wir durchqueren das lange Freital mit seinen vielen Bahnhöfen, ändert sich das Verhalten der Frau. Die Ruhe ist verschwunden. Sie ist nervös geworden. Aller paar Sekunden kramt sie in ihrer Handtasche rum, sucht irgendwas, findet irgendwas und sucht weiter nach was anderem. Sie schaut dauernd aufs Handy, in einen kleinen Handspiegel und zwischendurch wieder zum Fenster raus (Freital-Deuben) und zu mir. Ich gucke freundlich, hoffentlich. Und ich nenne sie insgeheim Claire.

 

Je näher wir Dresden kommen, desto aufgeregter wird Claire. Obwohl sie sichtlich um Fassung bemüht ist, merke ich das. Jetzt schaut sie nicht nur in den kleinen Spiegel, sondern hat sich während der letzten paar Minuten mindestens drei mal die Lippen nachgezogen. Mit einem zartroséfarbenen dezenten Lippenstift. Sie besprüht auch kurz ihren Hals aus einem winzigen Parfumflacon. Sie sitzt zu weit weg, deshalb kann ich weder das Fläschchen sehen noch den Duft riechen - um zu wissen, was es ist. Ich finde, ein Parfum sagt etwas über seine Trägerin aus.

 

Mein Hauptparfüm ist Opium, der orientalisch-würzige Klassiker von Yves Saint Laurent. InStyle (www.instyle.de) charakterisiert diesen Duft so: "....Besonders temperamentvolle, leidenschaftliche Persönlichkeiten werden sich von dem sinnlichen Duft hinreißen lassen, für sportliche oder pragmatische Charaktere ist er weniger passend." Damit ist alles gesagt. Ich fühle mich reizend beschrieben. Sogar meine Unsportlichkeit wirkt auf einmal geheimnisvoll und anziehend, oder... ?

 

Claire benutzt auf jeden Fall einen anderen Duft; vielleicht Jasmin Noir von Bulgari. Das würde zu ihrer distanzierten und kühlen Schönheit passen.

 

Gerade fahren wir in den Hauptbahnhof ein. Wir sitzen jetzt beide ganz ruhig da. Claire kann es kaum erwarten, aus dem Zug zu kommen und hält sich an ihrer Handtasche fest.

 

Dann ist es soweit. Der Zug hält an. Da er nicht voll ist, können wir schnell und ungehindert beide nacheinander aussteigen, sie zuerst.

 

Sie geht schnell den Bahnsteig entlang, zielgerichtet auf den Ausgang Richtung Wiener Platz zu. Dann verschwindet sie im Gewühl der Menschen. Ich kann sie leider nicht mehr sehen. 

 

Was sie wohl vorhat ?

 

Bestimmt hat sie einen neuen Mann kennengelernt. Heute ist ihr erstes richtiges Date. Er holt sie vom Zug ab und dann beginnt etwas Abenteuerliches für die beiden. Etwas Neues, Schönes.

 

In Gedanken wünsche ich Claire viel Glück. Und sie soll auf sich aufpassen.

 

***

 

Pawel holt sich die Fernbedienung des Fernsehers. Gerade hat er die Idee, mal wieder eine Folge "House of Cards" zu gucken. Seine Lieblingsfigur ist übrigens Remy Danton. Ein wirklich cooler Typ, das stimmt. Vielleicht hat der ja in Dresden Claire vom Zug abgeholt. Man weiß ja nie.