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Ottos Truhe

Gedanken um den 08. Mai

Ottos Truhe
Ottos Truhe

 

Meine Oma väterlicherseits hatte einen jüngeren Bruder, der Otto hieß. Für Oma blieb er immer der "Kleine", weswegen sie von ihm nie anders als in der Koseform seines Namens, nämlich "Ottchen", sprach.

 

Es war für sie nicht einfach, mir von ihm etwas zu erzählen, denn der kleine Bruder war nur dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Meine Oma hatte ihn mit großgezogen und sehr lieb. Sprach Oma von Ottchen, wurde sie immer traurig.

 

Im Sommer 1945 wurde Ottchen von den Russen erschossen, so erfuhr ich als Kind von ihr. Da meine Großeltern beide seit ihrer Jugend Kommunisten waren und deshalb während der Hitlerzeit bitter gelitten hatten, war für sie der 08. Mai 1945 in erster Linie ein Festtag, ein Tag der Befreiung vom Faschismus. Zu der Zeit war die kleine Stadt im heutigen Sachsen-Anhalt, in der meine Großeltern mit meinem Vater damals lebten, noch von den Amerikanern besetzt. Die standen bei Kriegsende an Elbe und Mulde und zogen sich Anfang Juli von dort nach Westen zurück. Die sowjetische Besatzungsmacht kam.

 

Denn bereits im Dezember 1943 hatten die Alliierten sich im wahrscheinlichen Fall des Sieges über Hitlerdeutschland  auf eine Aufteilung des besiegten Gebietes in Besatzungszonen geeinigt. Dann teilte man auf der Landkarte Deutschland in diese zukünftigen Besatzungszonen ein. Um die Gebietszuordnung ging es auch im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta und im August desselben Jahres in Potsdam.

 

Deutschlands Besatzungszonen 1945 (Karte: https://www.bpb.de)
Deutschlands Besatzungszonen 1945 (Karte: https://www.bpb.de)

 

1949 dann wurde die sowjetische Besatzungszone zur DDR; aus den westalliierten Gebieten entstand die Bundesrepublik Deutschland.

 

Viele Deutsche sahen in dieser Befreiung durch die Alliierten wohl oft eher die Kapitulation, die Niederlage - und erwarteten nicht viel Gutes, obwohl natürlich die meisten froh über das Kriegsende waren. Man fürchtete sich vor dem, was jetzt kommen sollte. Mit den Besiegten wurde niemals gut umgegangen - nach keinem Krieg. Sie mussten dafür büßen, dass sie die Gegner und nun unterworfen waren. Dabei spielten Haltung und Handlung des Einzelnen teilweise keine Rolle, man war Deutscher - das reichte wohl oft. 

 

Otto, der kleine Bruder meiner Oma, war bei Kriegsende kein Kind mehr, sondern ein junger Mann. Ob er die politische Einstellung seiner großen Schwester und ihres Mannes geteilt hat, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich war er Soldat gewesen, denn er hatte nicht - im Gegensatz zu meinem Opa - jahrelang im Zuchthaus gesessen.

 

Was genau an diesem Sommertag 1945 passierte, als Otto nicht mehr heimkam, ist mir unbekannt. Ich bin mir fast sicher, dass hier nicht meine Vergesslichkeit schuld ist, sondern dass man mir das nie so genau erzählt hat. Nicht deshalb, weil ich noch ein Kind war - anderes wurde mir auch zugemutet, schließlich sollte ich lernen, was gut und richtig war und was nicht. Sondern weil viele Kommunisten damals an die Sowjetunion glaubten, an Stalins Politik und die Rechtschaffenheit der meisten Sowjetbürger, auch der Rotarmisten. Dass diese plünderten, vergewaltigten, mordeten - das passte nicht in dieses Bild. Und doch wusste man, dass es geschah, erfuhr es selbst, am eigenen Leib, in der eigenen Familie. Ein Zwiespalt, dem man schwer entkommen konnte, der quälte, auch noch nach Jahren. 

 

Ottchen war schon mehr als dreißig Jahre tot, als ich von ihm erfuhr. Angefangen hat für mich alles mit einer schönen, blaulakierten Holztruhe, die bunt bemalt war. Leuchtend stand sie im Schlafzimmer meiner Großeltern und passte nicht so recht zu dem anderen Mobiliar. Zwei verschnörkelte Buchstaben, O. H., und die Jahreszahl 1938 zierten die Vorderseite des Möbelstücks. Wer war O. H., und was machte seine Truhe hier? Neugierig fragte ich die Großeltern und erhielt Auskunft.

 

Ottchen hatte diese Truhe selbst gebaut und bemalt, seine Aussteuertruhe war das. Sowas besaßen damals viele junge Menschen, damit sie bei Gründung eines eigenen Haushalts später mal "was hatten". Zu Festtagen gab es Geschenke, die in die Truhe wanderten: Bettwäsche, Handtücher, Badelaken, Tischwäsche. Mit dem eigenen Monogramm bestickt wurde das alles - dank meiner umtriebigen Oma mütterlicherseits hatte auch ich später so eine "Aussteuer". 

 

1938, im Jahr vor Kriegsbeginn, wurde Otto also mit seiner Truhe fertig. Damals war er erst sechzehn Jahre alt. Es kann sein, dass er eine Tischlerlehre absolvierte und die Truhe ein Lehrstück war - mein Opa war auch Tischler. Vielleicht hing das ja miteinander zusammen. Schade, dass heute keiner mehr lebt, den man fragen könnte.

 

So weiß ich nur, dass Ottchen, der jüngere Bruder meiner Oma Johanna, in einer kleinen Stadt am Fluss Unstrut eine Truhe baute und darin sieben Jahre lang seine Aussteuer sammelte. Ob er in diesen Jahren schon eine Freundin, eine Verlobte hatte, mit der er ein gemeinsames Leben plante? Und dafür eines Tages die Truhe mitnehmen und den Inhalt zufrieden herausholen wollte - dann, wenn der Krieg endlich vorbei sein würde?

 

***

 

Dass es dazu nie kommen würde, das hat er zum Glück nicht wissen können. Auch mich hat er nicht mehr kennengelernt, er wäre mein Großonkel gewesen: Onkel Otto. Vielleicht hätte er mir gezeigt, wie man so eine Truhe baut - sicher wäre sie rot geworden, da ich diese Farbe immer schon sehr mag: kirschrot. Heute steht seine blaue bei mir in der Wohnung. Manchmal fahre ich mit den Fingern über die Bemalung; ein paar bewusst von Otto mit dickerer Farbe gesetzten Strichen und Schwüngen nachspürend.  Täglich freue ich mich an dem Anblick.

 

Und ab und zu denke ich an Ottchen.

 

***