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Hervorgeholt: Warum Aufgeben keine Option ist

...oder woran mich meine Porzellanblume heute erinnert

 

Heute früh habe ich sie gesehen.

 

Während ich vor dem Aufbruch die Pflanzen goss, da guckte sie mich ruhig an. Die erste Blüte im Leben meiner Porzellanblume. Genau wie aus Porzellan, die kleinen Sterne. Fest und doch ganz zart. Die Form und auch die Farbe. So ein ganz kleines Rosé. Wunderschön. Ich freute mich.

 

Ungefähr sechs Jahre habe ich diese Pflanze (Hoya Carnosa) schon. Gezogen aus einem geklauten, gerade mal fingerlangen Zweiglein der Mutterpflanze. Diese stammt aus D., wo ich in einem Hausflur das kleine Blattwerk abbrach und schnell in der Handtasche verwahrte. Geschützt in einer Serviette des Cafés im Erdgeschoss, das ich eigentlich besuchte. Das Pflänzchen fuhr mit heim, weg aus der kleinen Stadt.

 

Zuhause kam es ins Wasser, wurzelte sehr gut. Dann pflanzte ich es ein und stellte es ins Fenster. Nun wuchs es, Blatt kam zu Blatt. Irgendwann hängte ich den Topf unter die Wohnzimmerdecke meines Erkers. Hier konnten die Zweige gut weiterranken. Manchmal berührte ich die festen, spitz zulaufenden, dunkelgrünen Blätter. Teilweise haben sie eine leichte Sprenkelung. Ein Zweig der Pflanze kletterte am Befestigungsband des Topfes hoch. Weiter passierte erst mal nichts.

 

Bis heute, wo ich diese schöne Blüte entdeckte. Ein guter Tagesbeginn. Guten Morgen, Du Schöne!

 

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Früher hatten wir zu Hause auch so eine Porzellanblume. Schon damals gefielen mir die besonderen Blüten. Der süße Nektartropfen, der sich auf jedem einzelnen Blütenstern bildete, schmeckte sehr gut. Und klebte auch so  richtig schön. Mittlerweile ist diese Pflanze eine Riesin und bewohnt das Schlafzimmerfenster meiner Mutter.

 

Noch so eine Pflanze gab es in einem Schmiedewerk, wo ich mal arbeitete. Die war auch schon alt und sehr groß. Sicher stand sie schon viele Jahre im Anbau der Produktionshalle. Im Treppenaufgang im Fenster der ersten Etage, genau vor der Stahltür mit Knauf, die in Meister R.s Büro führte.

 

Hier wurde allmorgentlich über das Produktionsergebnis der letzten drei Schichten gesprochen. Mehrere Verantwortliche der Abteilungen trafen sich. Sie diskutierten, dachten nach, stritten, lachten und schwiegen. Es wurde auch mal laut oder ganz still. Probleme analysierte man, manche wurden gelöst. Andere begleiteten einen dauerhaft. Alte Mitarbeiter gingen, neue kamen. 

 

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So auch ich eines Tages. Da stand ich an einem Sommermorgen vor Meister R.s Büro und sollte mich bei ihm melden. War mein erster Arbeitstag als Prozessingenieur hier. Eigentlich war der Schmiedeleiter für mich zuständig. Da der aber nicht da war, so musste Meister R. ihn vertreten. So war die Regelung.

 

Ich klopfte also an des Meisters Tür und er kam raus. Guckte mich fragend und etwas belustigt an. Ich erklärte ihm, dass heute mein erster Arbeitstag hier sei, ich noch keinen Ansprechpartner gefunden hätte, da Herr Dr. B. nicht im Hause sei. Und dass ich deshalb noch nicht wisse, was ich an diesem ersten Tag machen solle.

 

Ein Fehler. Der letzte Satz.

 

Meister R. zog die Augenbrauen hoch, hob den Kopf kerzengerade und kampflustig, um möglichst von weiter oben auf mich herabschauen zu können. Und dann sagte er wirklich: "Wenn Sie nicht wissen, was Sie hier machen sollen, dann kann ich auch nichts dafür. Wir haben hier alle unsere Aufgaben." Sprachs und ließ seine Stahltür mit Knauf hinter sich krachend ins Schloss fallen. Und ging schnell die Treppe hinunter.

 

Ich stand doof da. Neben der Porzellanblume im Flurfenster, weiss ich noch. Riesig stand sie blühend und etwas staubig da. Ich fühlte mich nutzlos und dämlich. Von der Produktionshalle dröhnte Lärm herauf. Leichte Vibrationen waren zu spüren. Es roch nach heißem Stahl, Kühlmittel, Schmierzeug. Ein bisschen auch nach Küchenmeisterstulle, Kaffee und Bratfett von der kleinen Kantine her. Im ersten Moment wäre ich am liebsten sofort wieder gegangen, aber so schnell aufgeben? Nein.

 

Ich habe Meister R. dann gesucht und gefunden. Wir besprachen die notwendigsten Dinge, ich zog mich um und begann meinen ersten Ingenieurstag. Ich musste lernen, wie groß und vielfältig das Gelände dieses Werkes war. Dieser seit langer Zeit existierende Ort der Arbeit für so viele. Schmerzlich aufgeteilt wechselte er mehrfach Namen und Besitzer. Viele Abteilungen voller Leute lernte ich kennen. Alle hatten ihre Aufgaben, natürlich.

 

Und ich jetzt auch.

  

Daran hat mich heute meine Porzellanblume erinnert.

 

Mit Meister R. habe ich mich später gut verstanden. Ein kluger, erfahrener, humorvoller Mann, von dem ich viel gelernt habe.

 

Es hat sich wieder mal bestätigt, dass Aufgeben keine Option ist.

 

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Der Maulwurf stimmt mir voll und ganz zu. In diesem Fall.