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Berliner Silvestergeschichte

Handstand in der U-Bahn und Kreuzberger Nächte

Kreuzberg, Sebastianstraße mit Mauerresten im Jahr 1990 (Foto: Thomas Schelper, Fotoarchiv Thomas Gade / www.medienarchiv.com))
Kreuzberg, Sebastianstraße mit Mauerresten im Jahr 1990 (Foto: Thomas Schelper, Fotoarchiv Thomas Gade / www.medienarchiv.com))

 

Dass Kreuzberger Nächte lang sind, das wissen wir, nicht zuletzt vom Hören des entsprechenden Liedes. Aber dass Nächte in Z. bei Berlin - ich nenne jetzt hier aus Rücksicht auf Bewohner und Liebhaber des Ortes nicht den vollen Namen  -  grässlich langweilig und unerträglich sein können und man dringendst Gegenmaßnahmen ergreifen muss - das möchte ich Dir heute im alten Jahr noch erzählen.

 

Also pass auf, hier kommt meine Berliner Silvestergeschichte, mit der ich Dir einen freundlichen Jahreswechsel hinüber in 2023 wünsche.

 

***

Während unserer gemeinsamen Studienzeit beschlossen meine damalige Berliner Freundin und ich, mal ein gemeinsames Silvesterfest in Berlin zu feiern. Von irgendeinem Bekannten bekam meine Berlinerin Karten für eine besondere Party - zwar nicht direkt in Berlin, sondern in einem kleinen Ort an einem See in Stadtnähe. Gefeiert wurde in der örtlichen Dorfkneipe mit scheunenartigem Saal. Es sollte rustikales Essen, Musik und Getränke geben. Klang doch ganz lustig, dachten wir uns. Warum dieser wirklich nur entfernte Bekannte die Karten uns so bereitwillig überließ? Man hätte misstrauisch werden können. Was war das für ein Ort - und welche Art Party plante man da?

 

Wir waren arglos, dachten an nichts Schlimmes und beschäftigten uns vorrangig mit unserem Aussehen. Stellten verschiedene Outfits zusammen, berieten über dies und das, putzten uns ordentlich heraus. Man wollte ja was hermachen, wenn man den Abend schon in der Provinz verbrachte ....

 

Mit der S-Bahn kamen wir in Z. an. Problemlos fand sich der alte Gasthof mitten im Dorf. Es war gegen 18 Uhr, da sollte laut Einladungskarte das Fest beginnen. Schon von weitem hörte man ein Dröhnen, Wummern und Scheppern. Beim Betreten des Saals ließ sich die Lage mit einem Rundblick erfassen und mit einem Wort beschreiben: aussichtslos.

 

Der weithin hörbare Lärm wurde von der Musikanlage eines betrunkenen DJs erzeugt. Der Mann torkelte an diesem Silvesterabend schon kurz nach 18 Uhr gefährlich seeuntüchtig durch den Saal und versuchte, seiner Anlage ein paar wenigstens normal klingende Töne zu entlocken. Wie gesagt - vergebens.

 

Die Gäste saßen in dem riesigen, grell beleuchteten Raum an langen Tafeln. Überall hingen Papiergirlanden und Luftschlangen. Mancher brandenburgische Dorfbewohner hatte sich zur Feier des Tages nicht nur festlich gekleidet, sondern trug sogar ein kleines Hütchen mit Glitzer oder Mini-Schornsteinfeger. Obwohl es auch ein paar jüngere Leute gab und die Gesellschaft ziemlich gemischt war, erschien die Lage nicht vielversprechend.

 

Meine Freundin versuchte, der Sache das beste abzugewinnen und begann, die vermeintlichen Vorteile unserer Situation zu benennen: "Nun, wo wir extra hier her gefahren sind....", "Guck mal, der Kleine da hinten sieht doch ganz süß aus.....", "Das Essen ist doch schon bezahlt ....". Mit dem Essen hatte sie recht. Es würde Eisbein mit Sauerkraut geben, der ganze Saal duftete schon sehr köstlich danach. Ich liebe Eisbein. Es stimmte: das Festmahl einfach auszulassen wäre blöd. Eine Weile diskutierten wir.

 

Ich meinte schließlich, hier auf gar keinen Fall den Jahreswechsel erleben zu wollen - das brächte mit Sicherheit Unglück für das gesamte neue Jahr. Mein Fluchtinstinkt arbeitete, das Essen nahm seinen Lauf (das Eisbein schmeckte hervorragend) und der DJ war inzwischen völlig hinüber. Meine Freundin stimmte endlich meinen Fluchtplänen zu; unter einer etwas heiklen Bedingung, von der noch die Rede sein wird. Wir verließen den Saal, verließen Z. und den schönen See, der im Dunkeln lockend schimmerte - als ob er mir wegen meines Weggehens aus Z. ein schlechtes Gewissen machen wollte. Und wenn schon: irgendwo anders würde es heute für uns besser sein als hier.

 

Wir gingen  also zum kleinen Bahnhof und fuhren mit der nächsten S-Bahn nach Berlin zurück. In der Bahn diskutierten wir, wohin wir jetzt eigentlich wollten. Schließlich war es Silvester und mittlerweile ca. 21 Uhr - wir mussten uns entscheiden. Ich fühlte mich abenteuerlustig, die Mauer war noch nicht so lange offen - und ich kannte Berlin-Kreuzberg noch nicht. Hatte nur als Kind das Lied der Gebrüder Blattschuss im Westradio mitgesungen und allerhand sehr Interessantes über diesen Stadtteil und seine Kneipen-, Hausbesetzer- und Partyszene gehört.

 

Ich sagte einfach: "Kreuzberg. Wir fahren jetzt nach Kreuzberg."

 

Meine Freundin war ein wenig überrascht und unschlüssig; auch sie als Berlinerin, ursprünglich aus Johannisthal, jetzt im Friedrichshain wohnend, war noch nie in Kreuzberg, Neukölln oder Charlottenburg gewesen. Kannte weder den Wedding noch Tempelhof. So wie ich, die ich familien- und freundesbedingt in meinem Leben damals auch erst in Lichtenberg, Berlin-Mitte, Köpenick, Treptow, Pankow und Biesdorf war, und das nur zu Besuch für einige Tage, nie lange.

 

Also - jetzt oder nie.

 

Meine Freundin stimmte zu und wir machten es, stiegen in die U-Bahn um. Hier erinnerte sie mich an den Preis, den mich ihre Zustimmung, den Saal in Z. zu verlassen, kostete. Sie hatte mir gesagt, nur wenn ich in der Bahn (wohin auch immer) einen Handstand für sie machen würde, nur dann käme sie mit. Weil mir an ihrer liebenswerten Gesellschaft sehr gelegen war, hatte ich schweren Herzens zugestimmt. Sie würde das nicht einfach vergessen oder auf sich beruhen lassen, das war mir klar.

 

"Also, was ist jetzt?" Solche Fragen haben auf mich auch heute noch meistens die Wirkung wie in "Zurück in die Zukunft" der Begriff "feige Sau" auf den Zeitreisenden Marty McFly

 

Die Bahn war jetzt, gegen 22 Uhr, mitten in Berlin und am Silvesterabend, gut gefüllt. Leider gab es genug Platz, um einen Handstand zu machen. Reichlich Publikum stand und saß herum. Ich trug Pumps mit hohem Stahlabsatz, eine schick gemusterte schwarze Strumpfhose und einen kurzen Rock. Egal. Ich machte einen wahrscheinlich nicht sehr eleganten Handstand. Zumindest fiel ich nicht sofort um, was um so bemerkenswerter war, da die Bahn ja fuhr. Schließlich stand ich wieder richtig herum auf meinen Stilettos. Wir waren in Berlin, hier hob sowas keinen groß an. Einige Fahrgäste hatten gelacht, gepfiffen und applaudiert - es hätte alles schlimmer kommen können. Ich hatte meine Mutprobe bestanden, meine Freundin ihren Willen durchgesetzt - so fuhren wir gemeinsam vergnügt weiter und stiegen schließlich aus. Im großen Kreuzberg - irgendwo. Den genauen Ort kann ich heute nicht mehr finden.

 

Als wir den Bahnhof verließen, war es leicht neblig und natürlich dunkel um diese Zeit; mittlerweile halb elf am Abend. Kälter wurde es; einzelne Schneeflocken segelten in graue Straßen, die scheinbar endlos und trist vor uns lagen. Wo wir hier gelandet waren, gab es keine bunten Kneipen, leuchtenden Restaurants, exotischen Läden so wie im Kreuzberg der Blattschuss-Brüder.

 

Nur finstere, einigermaßen heruntergekommene Wohnhäuser. Google und Handys zur Orientierung gab es damals noch nicht; ein Mensch zum Fragen auf der Straße war nicht in Sicht. Manchmal huschten einzelne Leute schnell von einem Hauseingang in den nächsten. Eigenartig das alles, fremd.

 

Eine erste Eckkneipe hatten wir schon hinter uns gelassen, uns tatsächlich nicht hineingetraut. Durch die Glasscheiben der Eingangstür sah man nur Männer im kleinen Gastraum, alles Türken, wie es schien. Wir gingen lieber weiter.

 

Mittlerweile war es fast halb zwölf. Ich sagte, dass wir in die nächste Kneipe oder Bar einfach hineingehen würden, ganz egal, was es für eine Lokalität sei und wer oder was dort drin säße. Ich wollte zum Jahreswechsel nicht bibbernd vor Kälte auf einer Kreuzberger Straße stehen, noch dazu ohne ein Getränk. Da wir mittlerweile wirklich froren und auf unseren hohen Absätzen müde über das Pflaster klapperten, war es nicht schwer, meine Freundin zu überzeugen.

 

Die nächste Lokalität war wieder so eine kleine Eckkneipe wie die vorige. Eingerichtet wie in den 1960er Jahren, holzgetäfelte Wände aus noch früherer Zeit. Exotische Musik schallte aus den Lautsprechern, laute Stimmen, die sich miteinander in für uns unverständlicher Sprache  unterhielten. Die Luft voller Rauch - damals noch normal. Als wir durch die Eingangstür in den Raum traten, verstummte alles fast schlagartig und glotzte uns an.

 

Der ganze Laden war voller Männer, voller Türken. Ein paar Griechen waren auch dabei, wie sich später herausstellte. Und es gab zwei weitere Frauen, zwei Deutsche. Eine von ihnen war groß, schlank, um die vierzig. Sie trug ihre glatten, lila gefärbten Haare offen und hatte einen Ring in der Nase. Gekleidet war sie ganz in schwarz. An die andere kann ich mich nicht mehr erinnern, sie verblasste neben der lila Prinzessin. Der türkische Wirt kam uns entgegen und versuchte uns hinauszukomplimentieren - weil wir ja wirklich hier nicht herpassten. Doch der Mann sah schnell ein, dass man kurz vor zwölf zu Silvester niemanden so unbarmherzig auf die Straße zurück schicken konnte.

 

Sein Mitleid siegte und er richtete nur für uns beide einen kleinen Extratisch ein, einen Katzentisch sozusagen. Den zog er zwischen die Gaderobenständer im hinteren Kneipenteil, wo uns die Männer nicht sehen sollten. Gemütlich saßen wir jetzt im Warmen, umrahmt von Wänden aus Mänteln und Jacken. Wir hatten uns Whisky pur bestellt - damals unser Lieblingsgetränk - und lachten über unser Abenteuer. Wir waren tatsächlich in Kreuzberg, gleich würde ein neues Jahr anfangen - was für ein Ding!

 

Als wir um zwölf auf das neue Jahr tranken, waren wir nicht mehr allein am Tisch.

 

Ein älterer Mann hatte den Anfang gemacht und war zu uns gekommen. Wir unterhielten uns gut über alles mögliche. Weitere Kneipengäste folgten, auch die zwei Frauen kamen mit. Das Ende vom Lied war, dass der Wirt hier nach Mitternacht noch weitere Tische heranzog und sich der Großteil seiner Silvesterparty nun im Garderobenbereich abspielte. Da die Musik laut genug war, wir alle miteinander freundlich umgingen und allerlei Getränke verfügbar waren, gab es nichts zu meckern. Nicht jeder trank hier Alkohol, es gab Tee in diesen besonders geformten kleinen Gläsern -  das fiel uns auf. Wir bevorzugten damals wie gesagt Whisky pur und ab und zu mal einen Gin-Tonic zwischendurch für den Durst. Es waren keine türkischen oder griechischen Frauen zugegen. Die waren wohl zuhause geblieben. Das war halt so. Wir dachten an diesem Abend darüber nicht weiter nach. Außerdem war es auch bei uns daheim so, dass mein Vater alleine in seine Stammkneipe ging.

 

Die älteren Männer waren uns gegenüber sehr höflich, freundlich und interessiert, was wir so im Leben machten - wenn wir nicht gerade in Kreuzberg in der Kneipe saßen. Die Jüngeren aber musste man sich vom Leib halten. Denn es war eindeutig, dass sie glaubten, sich hier uns gegenüber etwas herausnehmen zu können - schließlich waren wir ja deutsche Frauen, die allein unterwegs waren - also in ihren Augen ganz offensichtlich Personen ohne Moral. Übergriffig wurde keiner, im Endeffekt kamen wir gut miteinander aus, nachdem ich einem Achtzehnjährigen deutlich erklärt hatte, dass ostdeutsche Frauen nicht für ein paar Westmark mit jedem mitgehen würden, der das wollte ... Das schien ihn zu erstaunen. Und die Tatsache, dass wir beide - meine Freundin und ich -  an einer Uni Maschinenbau studierten, mochte er zuerst gar nicht glauben. Sehr verschieden waren unsere Welten - das war schnell klar. Schließlich konnten wir gemeinsam darüber lachen. Als diese Kneipenparty sich nach zwei Uhr nachts auflöste, da erreichten wir es dann doch noch: das bunte Kreuzberg und feierten bis in den Neujahrsmorgen.

 

***

 

Erst gegen zehn Uhr früh am Neujahrstag kamen wir in der Wohnung meiner Freundin im Friedrichshain wieder an.

 

Dieser Ausflug nach Kreuzberg war ein besonderes Erlebnis - unser erster gemeinsamer Besuch in Westberlin, noch kurze Zeit vorher unvorstellbar. Das machte uns schon damals glücklich, trotz der Kopfschmerzen, die wir auch an diesem ersten Januar natürlich hatten ...

 

 

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Wer jetzt einen Blick ins Kreuzberg der damaligen Zeit werfen will, findet hier etwas: