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Auf dem Kirchturm von St. Annen

Im Reich der Türmer

Blick vom Kirchturm St. Annen Richtung Süden auf Keilberg, Fichtelberg, Schacht 116 und die Galgenhöhe
Blick vom Kirchturm St. Annen Richtung Süden auf Keilberg, Fichtelberg, Schacht 116 und die Galgenhöhe

 

Annaberg-Buchholz hat ein besonderes Wahrzeichen: seine große evangelische Kirche "St. Annen" im Stadtzentrum von Annaberg oberhalb des Marktes.

 

Ein fast achtzig Meter hoher Kirchturm gehört zu dem beeindruckenden Bauwerk, dessen Grundstein im Jahr 1499 gelegt wurde. St. Annen ist eine der schönsten sächsischen Hallenkirchen; besonders ihr "Annaberger Bergaltar" ist berühmt.

 

Heute haben wir uns etwas Besonderes vorgenommen: wir wollen hoch auf den Turm. Denn endlich ist Mai und er ist wieder geöffnet, nachdem im Herbst und Winter Besucher aus Sicherheitsgründen nicht hinauf durften.

 

Der Turm von St. Annen
Der Turm von St. Annen

 

Der Turm birgt über dem Glockenstuhl mit den vier Glocken etwas Besonderes: eine Wohnung. Hier leben seit ca. fünfhundert Jahren die Türmer. Über zweihundert Stufen steigt der Türmer bis zu seiner Wohnungstür. Alles muss herauf- bzw. heruntergeschafft werden, was man so braucht oder loswerden will. Heute gibt es eine elektrische Seilwinde, damit man z. B. nicht jeden Großeinkauf per Hand hochschleppen muss.

 

Ich habe schon ab und zu von unten aus hoch oben auf dem Turm Wäsche im Wind flattern sehen - das hat mir gefallen. So ein besonderes Bauwerk ist hier nicht nur historische Stätte, religiöser Ort, baumeisterliche Leistung - sondern auch ein Platz, an dem Leute leben. Ein Kind großziehen, essen, schlafen, zum Fenster rausgucken, Steuererklärungen und Hausaufgaben machen, zur Arbeit und in die Schule gehen, Gäste empfangen; die ehrenamtlichen Türmerpflichten übernehmen. Und eben Wäsche waschen und raushängen.... 

 

Gut festgeklammert muss die sein, denke ich mir beim Betreten der Aussichtsplattform des Turms, denn hier zerrt der Wind heftig. Vielleicht gibt es sogar extrastarke Wäscheklammern für höhere Windstärken? Später gucke ich mal nach. Und tatsächlich:

 

www.amazon.de
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Bevor man aber oben ist, müssen die vielen Stufen gestiegen werden. Ich fand es nicht weiter anstrengend, da es m. E. n. eine sehr gut gebaute Treppe ist. Nicht zu vergleichen mit manch anderem engen Wendelturm oder den steilen Stiegen, die es manchmal auch gibt.

 

 

Außerdem gelangt man zwischendurch an verschiedene Zwischenstationen: Nischen und Treppenabsätze, die liebevoll gestaltet wurden und dem Erschöpften beim Treppensteigen eine Möglichkeit zum Verschnaufen bieten. Ein paar gemütliche Plätze gibt es, wo man sich durchaus mit seinem Kaffeerohr niederlassen kann....

 

Dabei lernt man noch was, wenn man will. Über die Kirche und den Turm, ihre Glocken und deren Schicksal. Natürlich geht es auch um die Menschen, die den Dienst des Türmers hier versahen und deshalb im Turm wohnten. Das war wenig romantisch, sondern eine zwingende Vorraussetzung. Denn als das Glockläuten noch per Muskelkraft getätigt wurde, da musste der Türmer vor Ort sein. Nicht nur die Stundenschläge und Gottesdienstbegleitung waren seine Pflicht, sondern auch Alarm zu geben. Zum Beispiel dann, wenn Feuer ausgebrochen war. Die Glocken waren die Zeiteinteiler, Rufer zum Gebet und Alarmsirenen alter Zeit.

 

 

Die Amtsvorgängerin des aktuellen Türmers Matthias Melzer, das war Frau Soltau. Ilse Soltau, Annaberger Türmerin, die hier oben lebte und von 1967 bis 1995 ihren Dienst leistete. Ihr Mann Kurt Soltau , ein gelernter Tischler, gehörte zu den berühmtesten Zauberkünstlern in der DDR; er betrieb ein eigenes Zaubergeschäft unweit der St.-Annen-Kirche. Das Bild der Türmerin Ilse Soltau haben wir Dir mitgebracht:

 

Ilse Soltau, Türmerin
Ilse Soltau, Türmerin

 

Auch einige andere historische Bilder finden sich im Turm; es sind alles Ausstellungsbestandteile, hier fotografiert ohne zusätzliche Quellenangabe:

 

 

Besonders schön sind für mich die Bilder der tatkräftigen Frau Soltau, die fast dreißig Jahre Türmerin von St. Annen war.

 

Sehr bedrückend dagegen die Bilder vom Glockenabtransport und schlimm die auf dem Güterbahnhof im Dreck herumliegenden Glocken, die man zum Einschmelzen fährt und das Material zur Waffenherstellung weiterverwendet.

 

Die 1814 gegossenen drei Glocken, die jetzt noch auf St. Annen läuten, heißen "Anna", "Margarethe" und "Peter und Paul". Die 2001 in Betrieb genommene vierte Glocke des Geläuts, die Häuerglocke, heißt "Maria". Sie ersetzt ihre beiden eingeschmolzenen Vorgänger. "Maria" trägt den Spruch "SEID FRÖHLICH IN HOFFNUNG, GEDULDIG IN TRÜBSAL, HALTET AN AM GEBET. (RÖM 12.12) "

 

Die Glocken in ihrem schön sanierten Glockenstuhl sieht und hört man hier in Aktion: GLOCKEN LÄUTET! 

 

 

Fast jeder hierzulande kennt Schillers "Lied von der Glocke". Darin wird auch beschrieben, was die Aufgabe der Glocke ist:

 

...Und dies sei fortan ihr Beruf,

 Wozu der Meister sie erschuf:

 Hoch überm niedern Erdenleben

 Soll sie im blauen Himmelszelt,

Die Nachbarin des Donners, schweben

 Und grenzen an die Sternenwelt.

Soll eine Stimme sein von oben,

 Wie der Gestirne helle Schar,

 Die ihren Schöpfer wandelnd loben

Und führen das bekränzte Jahr.

 Nur ewigen und ernsten Dingen

 Sei ihr metallner Mund geweiht,

 Und stündlich mit den schnellen Schwingen

 Berühr’ im Fluge sie die Zeit....

 

 

Dann sind wir oben, kaufen eine Eintrittskarte und betreten die Turmplattform. Herrliche Aussichten hat mir hier. Man sieht über die Stadt Annaberg-Buchholz hinweg, als stünde sie auf einer Spielzeugeisenbahnplatte. Pöhlberg, Keilberg, Fichtelberg, Bärenstein, Schacht 116 sind markante Punkte in der Landschaft. Der Markt mit dem Rathaus ist da, das Erzgebirgsklinikum, die Katharinenkirche und ganz Buchholz. Auch der Galgenhöhe genannte Berg, wo wir letztens waren, findet sich wieder.

 

Glockenklöppel
Glockenklöppel

 

Winzige Menschen und Autos unterwegs in den Straßen und Gassen. Der Wind weht ordentlich; beim Fotografieren muss ich aufpassen, dass er mir das Handy nicht aus der Hand reißt. Da Sonne scheint, ist es trotzdem sehr angenehm. Lange kann man hier auf einer der zwei Bänke sitzen und in die Ferne schauen. Die ganze Zeit ist außer uns nur ein einziger Mann auf die Plattform gekommen. Heute ist ein recht windiger Tag; vielleicht bleiben deshalb die meisten lieber unten. Die sich daraus ergebende Einsamkeit des Ortes ist wunderschön.

 

Emil Löschner, Türmer von St. Annen 1909 - 1954
Emil Löschner, Türmer von St. Annen 1909 - 1954

 

In dieser Stille gut vorstellen kann man sich die Türmer und ihre Familien, wie sie über Jahrhunderte hier lebten. Wie sie in Dunkelheit und Kälte zu ihren Glocken gingen, sie läuteten, pflegten und auch mit dem Herzen daran gehangen haben. 1909 - 1954 war Emil Löschner Türmer auf St. Annen. Ein schwerer Schmerz muss es für ihn gewesen sein, als man kriegsbedingt 1914 und 1942 jeweils eine der vier Glocke, die Häuerglocke,  zum Einschmelzen abholte. Erst 2001 wurde die eingeschmolzene Häuerglocke durch eine neu gegossene ersetzt.

 

 

Beate Werner (MDR / "Unterwegs") hat den aktuell amtierenden Türmer Herrn Melzer und seine Familie besucht, hier ein kurzes Video dazu:

 

 

Wer mehr zur Türmerfamilie Melzer wissen will, der liest vielleicht diesen Artikel vom DLF gerne:

 

Aus dem Turm ins Licht....
Aus dem Turm ins Licht....

 

Falls Du jetzt Aktuelles zum Turm und den Öffnungszeiten (Mai - Oktober) wissen willst, wirst Du gleich fündig und erlebst vielleicht selbst einmal den Turm und die Aussicht:

 

 

Wo man die Eintrittskarte für die Turmaussicht kauft, da steht neben anderen Erinnerungsstücken ein ganzer Korb voller winziger Bären. Ein kleiner brauner hat es mir gleich angetan mit seiner etwas skeptischen Miene. Perfekt passt er zu Pawel, dem Maulwurf. Der Türmerbär hat noch keinen Namen. "Gut Ding will Weile haben" sage ich zum ihm, als wir wieder zuhause sind.

 

Vielleicht hat er ganz leicht genickt....

 

Maulwurf Pawel und der noch namenlose Türmerbär
Maulwurf Pawel und der noch namenlose Türmerbär