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Ullersdorf / Oldříš (Böhmen)

Ganz anders als gedacht

Das Kreuz für Ullersdorf
Das Kreuz für Ullersdorf

 

An einem herrlichen Maitag Ende voriger Woche machen wir uns wieder mal nach Böhmen auf.

 

Ziel ist diesmal die Quelle der Freiberger Mulde, die hier kurz hinter dem Dorf Moldava (Böhmisch-Moldau) entspringt. Der Ort Moldau hat seinen Namen von der Freiberger Mulde, die anfangs "Moldavsky Potok", also Muldenbach, heißt. Erst hinter der deutschen Grenze ändert sich der Name des immer breiter werdenden Baches in "Freiberger Mulde". Schon hier merkt man: es wird leicht verwirrend. Und dann....

 

... kommt es ganz anders als geplant.

 

An der deutsch-tschechischen Grenze ist die Freiberger Mulde nach 10 km von der Quelle bis hierher schon ein stattlicher Bach.
An der deutsch-tschechischen Grenze ist die Freiberger Mulde nach 10 km von der Quelle bis hierher schon ein stattlicher Bach.

 

 

Um es gleich zu sagen: den in Stein eingefassten Quell der Freiberger Mulde erreichten wir diesmal nicht, wohl aber den Mulden-Wald und das Mulden-Quellgebiet. Warum das so war, dazu kommen wir später noch.

 

Der Weg führt zunächst vom Holzhauer Bahnhof an der Mulde entlang zum Teichhaus, vom Teichhaus zum kleinen Grenzübergang ein paar Gehminuten flussaufwärts, dann in Richtung Moldava, zur Kirche "Mariä Heimsuchung" am Ortseingang, durch Moldava ein Stück hindurch, eine alte LPG-Straße Richtung Kamm hinauf, schließlich in den Muldenquellwald hinein.

 

 

Herrlich diese Weite, wenn man oben angekommen ist;  der heute Mai-laue böhmische Wind - die Aussicht. Hier kannst Du stundenlang rumlaufen, ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Kommt doch einer, dann siehst Du ihn wenigstens rechtzeitig. Hier ist es gut möglich, laute (Selbst)Gespräche zu führen, zu singen, zu lachen oder zu schimpfen - ganz für sich oder zu zweit,  je nach Bedarf.

 

 

Da wir leichtsinnigerweise aus einer anderen Himmelsrichtung (als laut Kartenmaterial vorgeschlagen wurde) zum Quell vordringen wollen, kommen wir in ein Sumpfgebiet voller interessanter Moorvegetation und verborgener Lebewesen.

 

Dichtes wolliges Gras verdeckt teils tiefe Wasserlöcher; sumpfige Wiesen mit kleinen, widerstandsfähigen Nadelgehölzen und fetten Sumpfdotterblumen sehen etwas unheimlich und märchenhaft aus, abgestorbene Wurzeln und Äste ragen wie Speere aus dem Grund, aufgeschreckte Vögel fliegen laut rufend aus ihren Verstecken auf. Wir treffen sogar auf die Ausgrabungsstätte einer alten böhmischen Glashütte, auf leuchtend grüne Gräser und Kräuter, verschiedenste Käfer, Mücken und sonstige Insekten. Leise blubbert, murmelt überall das Wasser. Meist verborgen, teilweise auch sichtbar in kleinsten Bächen, ja Rinnsalen und Wasserlöchern. Aber wo ist denn nun die Quelle der Mulde?

 

Glaubt man Google Maps, dann hatten wir längst "unser Ziel erreicht" und stehen laut Navigation direkt neben der Quelle. Nur finden wir statt einer breiten Senke mit glucksendem Wasser nichts - wohl wissend, dass es eine ausgewiesene Quelle mit Namensschild und Steineinfassung geben muss. Dass sie "gut versteckt" sei, das lasen wir schon auf einer Website, die uns ein Foto der Quelle zeigte und den Weg wies. 

 

Den Grund finde ich etwas später heraus. Die eingefasste Muldenquelle ist nämlich nicht identisch mit dem Anfang des Moldavsky Potoks. Ein paar hundert Meter Entfernung liegen zwischen ihnen, die Geodaten unterscheiden sich. Wie das genau aussieht, das schauen wir uns an einem anderen Tag vor Ort an. Ich vermute, unsere Mulde hat eine offizielle Quelle, die gut zugänglich ist, nicht versiegt und immer sichtbar bleibt. Und ein gesamtes Quellgebiet, wo der Muldenbach anfängt sich zu sammeln und in dessen Bereich der auf der Karte markierte Bachbeginn wirklich liegt.

 

Wenn wir Glück haben, dann fanden wir gerade die geheime Quelle und nur die öffentliche nicht.....

 

Das nächste Mal wissen wir es.

 

Kartenausschnitt mit Google Maps
Kartenausschnitt mit Google Maps

 

 

Statt der offiziellen Muldenquelle finden wir aber etwas anderes, und zwar einfach so, ohne danach zu suchen.

 

Ist man erst oben, dann gehts eigentlich ....
Ist man erst oben, dann gehts eigentlich ....

 

Etwas frustriert treten wir schließlich den Rückweg an und geben für den aktuellen Tag die Suche nach der Quelle auf. Es ist schon Abend geworden und wir wollen schließlich nicht im Dunkeln durch Wald und Sumpfgebiet stolpern. Noch scheint die Sonne, aber der Rückweg liegt ja erst vor uns.

 

Beim Heraustreten aus dem Muldenquellwald leuchtet oben auf dem Waltersberg etwas. Gegen den Abendhimmel zeichnet sich ein großes Kreuz ab. Was ist das? Den kleinen Umweg von der Straße aus nehmen wir gerne und neugierig in Kauf, biegen auf den Feldweg ab und folgen dem blinkenden Kreuz. 

 

Dann stehen wir davor und lesen, warum dieses Kreuz hier steht. Und was früher hier war.

 

Ullersdorf.

 

 

 

Ullersdorf, später Oldříš, lag genau hier in 860 Metern Höhe auf dem Waltersberg am alten Handelsweg, der oben auf dem Berg entlang von Böhmen nach Sachsen führte. Den Namen dieses Dorfes hatte ich schon gehört; nicht zu verwechseln mit dem Ullersdorf, das zum sächsischen Radeberg gehört.

 

Sicher noch nicht lange steht dieses Kreuz auf seinem Steinsockel hier, es sieht noch so neu aus. Zwei rustikale Bänke gibts auch, ein guter Platz für Kaffee aus dem Rohr ...

 

Ein Stück weiter, hinter Ullersdorf, liegt das berühmte "Betteleck", eine alte Handelskreuzung und heute kleiner Grenzübergang von Tschechien nach Deutschland. Wir waren dort, Du erinnerst Dich vielleicht, um die Wüstungen der Dörfer Grünwald und Motzdorf zu besuchen.

 

Auch Ullersdorf ist eins der zahlreichen böhmischen Dörfer in der Nähe der sächsischen Grenze, das nach dem zweiten Weltkrieg durch Vertreibung seine deutschen Einwohner fast komplett verlor und ein paar Jahre später plattgemacht wurde. 

 

Ullersdorf (1920-30er Jahre) / https://www.boehmisches-erzgebirge.cz/#Ullersdorf
Ullersdorf (1920-30er Jahre) / https://www.boehmisches-erzgebirge.cz/#Ullersdorf

 

Ullersdorf wurde wahrscheinlich schon im 14. Jahrhundert hier am Handelsweg gegründet. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es die meisten Bewohner, über vierhundert Leute lebten hier in ca. sechzig Häusern. Man lebte von Waldarbeit, Tierhaltung und der in dieser Witterung beschwerlichen Landwirtschaft. Sicher wegen der schwierigen Lebensumstände und der Auswirkungen des ersten Weltkriegs schrumpfte das Dorf in den nächsten Jahrzehnten.  In den 1920er Jahren aber kamen die ersten Touristen nach Ullersdorf, das mit sauberer Höhenluft, sehr gutem Wasser und schöner Aussicht für sich warb. Heute rühren mich diese einfachen Verlockungen besonders. In einer Zeit, wo alles zum Mega-Event umgefummelt wird, sind Erde/Wasser/Luft klare und ursprüngliche Ansagen. Sie wirken verlässlich (auf mich).

 

1939 im Frühjahr zählte man noch 266 Einwohner, die 1945 fast alle vertrieben wurden. Mitglieder der Familie Klausnitzer blieben als einzige in Ullersdorf; Frau Selma Klausnitzer erzählt uns gleich was darüber. Der Journalist Holger Metzner hat sie vor fast zwanzig Jahren in Moldava, wo sie damals wohnte, besucht.

 

Heute ist hier oben nur das Kreuz. Wenige Bäume, ein paar Steine, ein Stück Stahlträger, ein alter rostiger Ring. Weideland für Rinder, die aber gerade weit weg weiden. Ganz in der Ferne Richtung Nordosten sehen wir sie ruhig im Grünen stehen.

 

Was noch übrig ist.
Was noch übrig ist.

 

Am 06. Oktober 2005 schreibt Holger Metzner in der Sächsischen Zeitung über Ullersdorf (Böhmen):

 

"Die endlosen Wiesen auf dem Erzgebirgskamm sind weiß von Margeriten. Auch hier in Ullersdorf wurden alle vertrieben. Bis auf eine einzige Familie. Niemand weiß, warum ausgerechnet die Klausnitzers bleiben durften. Selma Klausnitzer zuckt mit den Schultern. Sie lebt heute in Moldava, nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Haus ihrer Eltern entfernt, mit ihrer Tochter und zwei Brüdern. Sie sind um die fünfzig und kennen den Krieg nur vom Hörensagen. Warum gerade ihre Eltern bleiben durften, das wüssten sie selbst gern. Vielleicht weil der Vater in der neu gegründeten LPG unentbehrlich war?

 

Seit dem 16. Jahrhundert gehörte das Grundstück in Ullersdorf der Familie, 1945 wurde sie enteignet, doch blieb sie bis Ende der fünfziger Jahre auf dem Hof. Heute ist die deutsche Familie ein Unikum in Moldava. Untereinander sprechen sie ein eigenes deutsch-tschechisches Idiom, je nachdem, welche Sprache kürzer ist. Ferngesehen wird auf Deutsch, Witze sind besser auf Tschechisch. Mit den Nachbarn haben sie nur wenig Berührungen - die Klausnitzers hängen an ihrer böhmischen Scholle, nicht an den Menschen hier.

 

 (Quelle: Holger Metzner / http://www.ullersdorf.de/berichte/sz968618Ullersdorf.html)

 

 

Und weiter:

 

"An die Dörfer ihrer Kindheit hat Selma Klausnitzer vor allem eine Erinnerung: Es war kalt. Drei Meter Schnee im Winter, ein kilometerweiter Fußmarsch zur Schule, ein einziges beheiztes Zimmer im ganzen Haus. Ullersdorf war ein typisches erzgebirgisches Streudorf, mit 76 einzelnen Häusern entlang des Kammes, ohne echtes Zentrum. 386 deutsche Einwohner gab es im Jahr 1885. Reiseführer aus dem 19. Jahrhundert priesen die gute Luft, das gesunde Wasser.

 

Die Klausnitzers schufteten wie ihre Vorfahren in der Landwirtschaft, bis das so genannte "Protektorat", die Zwangsannektierung durch Hitlerdeutschland, etwas Wohlstand ins Gebirge brachte. "Auch die Tschechen haben doch vom Protektorat profitiert", meint Selma Klausnitzer. "Hier wurden immerhin dieselben Löhne bezahlt wie in Deutschland." Die Schrecken der Naziherrschaft waren weit weg für ihre Eltern. "Und die Vertreibung?" Schweigen. Vater und Mutter hätten schlimme Dinge erzählt, meint Selmas Bruder Hermann. "Was genau ist denn passiert?" Nein, darüber reden sie nicht, wenn ein Journalist dabeisitzt. Die Nachbarn im Ort seien da sehr sensibel, und beweisen könne man ja sowieso nichts."

 

(Quelle: Holger Metzner / http://www.ullersdorf.de/berichte/sz968618Ullersdorf.html)

 

Kapelle Ullersdorf, vorn links im Bild (https://www.boehmisches-erzgebirge.cz)
Kapelle Ullersdorf, vorn links im Bild (https://www.boehmisches-erzgebirge.cz)

 

Tatsächlich schaffen wir den letzten Zug, mit dem wir heute heimfahren können, noch und haben einen sonnigen und besonders schönen Tag erlebt - auch ohne die (offizielle) Muldenquelle....