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Fahrradfahren mit Schwimmflügeln

Die Vorsicht, der Sinn und der Verstand

 

Als ich vor wenigen Tagen auf einem Wanderweg durch das schöne Tal der Roten Weißeritz  unterwegs war, da erlag ich kurz einer optischen Täuschung. Ich sah hinter den Sonnenflecken auf dem Weg, vor dem blendenden Himmel, eine Gestalt auf mich zukommen. Es war ein Fahrradfahrer - an sich nichts Besonderes. Aber dieser Mann - ich starrte ungläubig - hatte auf dem Rad tatsächlich Schwimmflügel an?!

 

Ich war ganz kurz perplex.

 

Bis ich beim Näherkommen des Dubiosen meinen Irrtum bemerkte. Ich hatte mich "verguckt". Mit dem Radfahrer war alles in Ordnung. Er hatte nur ein dunkles T-Shirt über ein knallorange gemustertes Langarmshirt gezogen. Die farbigen Ärmel setzten sich gegen das dunkle T-Shirt ab. Deswegen sah es von Weitem so aus, als trüge er leuchtend signalfarbene Schwimmflügel an den Oberarmen.

 

Aber warte mal - ist das gar nicht so abwegig wie es scheint?

 

Machen wir ein Gedankenspiel: 

 

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Wenn nun zum Beispiel Gesundheitsminister Karl Lauterbach empfehlen würde, zum Schutz vor eventuellen Stürzen vom Fahrrad vorrausschauend diese aufgeblasenen kleinen Kissen zu tragen, schlössen sich der Meinung des Ministers auf jeden Fall viele Fraktionskollegen und sicher sofort einige Sportmediziner an. Die Schwimmflügelproduzenten würden die Alternativlosigkeit der Maßnahme betonen, die Intensivmediziner bekräftigten wieder, dass es in ihrem Bereich fünf vor zwölf sei.

 

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Die Presse titelt: "Mit dem Fahrrad kam der Tod" oder so ähnlich. Burkhard Müller-Ullrich spricht in seinem Podcast "Indubio" darüber, dass Schwimmflügel eigentlich ins Wasser gehören. Dafür wird seine Sendung von YouTube gelöscht, weil es sich offenkundig um Fakenews handelt. Die Toten Hosen dagegen empfehlen das Tragen der Polster in einem Interview. Bundespräsident Steinmeier zieht daraufhin die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Campino in Erwägung. Aber erst, nachdem er öffentlichkeitswirksam in einem der großen Fenster von Schloss Bellevue eine Kerze entzündet hat.

 

Die Bürger schütteln zuerst mehrheitlich die Köpfe und lachen ratlos, ungläubig oder genervt. Dann werden sie vorsichtiger.

 

Später wird einer nach dem anderen die Schwimmflügel beim Fahrradfahren tragen, bis auf wenige Ausnahmen.

 

Man fängt an, sich gegenseitig zu beobachten und zu kritisieren, falls jemand die Schwimmflügelpflicht missachtet. Auf Twitter gibt es jetzt das Schwimmflügel-Emoji im Profilnamen, gleich neben Rotpunkt, Regenbogen, brauner Faust und Spritzenzeichen. Damit man weiß, dass hier ein guter Mensch unterwegs ist.

 

Jeden Abend in der Tagesschau sehen die Zuschauer Berichte, wieviele Menschen täglich mit oder am Fahradfahren zu leiden hatten. Gestürzt, geschädigt, gestorben? Angst macht sich breit. Manche Leute gehen soweit, alle Fahrräder vernichten zu wollen. Dann kann auch keiner mehr fahren und dann - kann auch keiner mehr stürzen.

 

Karl Lauterbach sitzt bei Markus Lanz in der Talkshow und erklärt, wie gefährlich das Fahradfahren an sich ist und wie unerlässlich das Tragen der Schwimmflügel, wolle man als Gesellschaft den Sommer überleben und nicht zehntausende Kinder elternlos machen. Lanz guckt unbehaglich, gibt aber kein Kontra. Ein anderer Talkshowgast bemerkt, das man bisher auch ganz gut ohne Schwimmflügel radfahren konnte. Er wird eisig abgekanzelt und nie wieder eingeladen.

 

Es gibt nun eine Schwimmflügeltragefahradfahrerschutzverordnung mit saftigen Bußgeldern. Schließlich muss es richtig weh tun, wenn so eine unsolidarische Raubsau hemdsärmlig durch den Wald fährt. Sich selbst und die Mitmenschen gefährdend, das Gesundheitswesen potentiell be- bzw. überlastend, egoistisch, bildungsfern, sozial abgehängt oder psychisch auffällig. Mit Sicherheit rassistisch und rechtsradikal, so ein Nazi ohne Schwimmflügel.

 

Jeder Radfahrer hat seine Schwimmkissen an, die Kinder kennen es gar nicht mehr anders und bemühen sich, es den Großen gleichzutun. Die Eltern sind stolz auf ihre klugen und solidarischen Kinder, die auch den Müll ordentlich trennen und freitags demonstrieren gehen. Familien streiten sich, Freunde verabschieden sich, Paare trennen sich, Arbeitskollegen distanzieren sich.

 

Es gibt plötzlich Schwimmflügelleugner und Hardcoreschwimmflügelträger, von denen letztere die Kissen auch beim Laufen tragen oder zu Hause, (vermutlich) allein im Bett.

 

Universitäten empfinden es als angemessen, sich vor Betreten ihrer Hörsäle die Schwimmflügel vorweisen zu lassen. Wer keine hat, muss gehen, auch aus diesen (ehemaligen) Zentren des Wissens, des Fortschritts, der aufgeklärten Debatte. Gleiches gilt für den, der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt oder aufgrund der explodierenden Spritpreise inzwischen damit fahren muss. Auch wer ins Kino, ins Theater oder ins Restaurant gehen will, hat Schwimmflügelnachweispflicht. Könnte ja sein, er fährt mit dem Fahrrad heim. 

 

Eine ganz miese Truppe von rechten Provokateuren kennt man in jeder Stadt und auf jedem Dorf, die doch tatsächlich ohne Schwimmflügel mit dem Rad fahren! Einfach so. Und vielleicht noch über die Flügelträger lachen, den Kopf schütteln und Studien diskutieren, nach denen Schwimmflügel unnütz beim Radfahren sind. Und sogar schaden können, weil diese Polster stören, ablenken und runterrutschen. Wodurch schlimmere Stürze verursacht werden, als hätte man gleich auf die Flügel verzichtet. Wenn das wahr wäre .... Allerdings haben die Faktenchecker der Republik sich sofort auf diese Themen gestürzt und sie - alle - komplett als Falschmeldungen entlarvt. Natürlich. 

 

Um so verbissener trägt die Flügelfraktion die Aufblaskissen. Im sächsischen Freiberg startet man eine Kampagne "Auch wenn nichts mehr läuft, wir tragen Schwimmflügel!" Auf dem Obermarkt stehen jetzt ab und zu Personen mit Schnabelmaske, Kerzen und Schwimmflügeln am Arm, allerdings ohne Fahrrad.

 

Die meisten machen das Ganze mit; teils aus Angst, beim Sturz tatsächlich so gefährliche Verletzungen davonzutragen, wie es ihnen die Tagesschau allabendlich drastisch berichtet. Andere wollen ihre Ruhe haben, einfach nur unbehelligt Rad fahren. Oder sie sind zu feige, sich gegen die öffentliche Meinung zu stellen.

 

Im Bundestag wird mittlerweile eine Kissentragepflicht diskutiert, ein entsprechendes Gesetz soll bald  verabschiedet werden. Fast alle Parteien  - bis auf eine -  unterstützen diesen Gesetzentwurf. Auch die FDP, die immer den großen Freiheitsbademeister spielt, aber eigentlich ein Nichtschwimmer und heimlicher Schwimmkissenfetischist ist. Was heutzutage jeder weiß, aber keiner zugeben will. Umgefallen wie immer, versteckt in der Umkleidekabine des Schwimmbades.

 

Ein Sonderetat für die Umsetzung der Schwimmflügelpflicht wurde von der Bundesregierung bewilligt. Die massiven Umweltschäden, die durch die Herstellung, den Transport, die Entsorgung von Milliarden von Schwimmflügeln erwachsen, debattiert auch kein Grüner mehr ernsthaft.

 

Zwischenzeitlich gibt es etwas Aufruhr, weil ein paar Abgeordnete mit Schwimmkissenherstellung Geld verdient haben, aber das ist schnell wieder vergessen. Zumal bei den oft gezeigten Bildern mit Särgen, wo die ganzen Fahrradverunfallten drin liegen sollen. Schlimm. Ja. 

 

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Allerdings gibt es da ein paar Renitente, die sich montags am Abend nun zum Radfahren in ihrer Stadt treffen und - man kann es kaum glauben - OHNE Schwimmflügel auf dem Fahrrad sitzen. Alles Nazis, so liest man in der Zeitung.

 

Wird schon was dran sein...

 

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