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Sage vom Peststein bei Rauenstein (2)

Die Rückkehr

Die Frau am Feuer
Die Frau am Feuer

 

Als Michael die Freiberger Totengräber glücklich verlassen hatte und auf seinem Pferd zur Stadt hinausgeritten war, suchte er - so schnell es ging -  wieder aus dem Mondlicht herauszukommen. Sachte führte er sein Pferd in den Wald, der ein Stück vor dem Friedhof begann. Zu spät bemerkte er ein Feuer, zu spät sah er Funken fliegen wie kleine, glühende Feuerbienen und dachte schon, in die Hand von Soldaten zu fallen. Aber - er hatte sich geirrt.

 

Am Feuer saß eine Zigeunerin, allein war sie - bis auf einen großen schwarzen Hund, der drohend knurrte. Ein sehr kleines dunkelpelziges Tier saß neben ihr und war nur als Schatten wahrnehmbar. Eine Maus? Ein Maulwurf? Als Michael näher trat, zog der große Hund die Lefzen hoch, sein Knurren war jetzt lauter und in einer Tonart, die sagte: "Hau ab - oder Du wirst es bereuen." Aber die Frau beruhigte den Hund, betrachtete Michael und winkte ihn zu sich ans Feuer.

 

Wo er denn hin wolle, mitten in der Nacht? In dieser schlimmen Zeit?

 

Das gleiche hätte er sie auch fragen können, denn ein Reisebündel lag, gut bewacht vom Hund, zu ihren Füßen. Aber da seine Mutter ihn gut erzogen hatte, antwortete er höflich und stellte keine neugierigen Fragen an diese sonderbare Frau. Auch sie musste sich doch vor Verfolgung durch die Wachen fürchten, die hier überall waren?! Er erzählte ihr seine Geschichte, seine Stimme klang heiser. Er hatte Angst, das spürte die Frau. Angst, zu spät zu kommen daheim. Angst, gefasst zu werden unterwegs. Angst, es nicht zu schaffen. Sie reichte ihm einen Becher mit scharfem, heißen Inhalt.

 

Er trank, ohne Fragen zu stellen. Ihm wurde leicht ums Herz.

 

Dann nahm sie seine Hand, hielt sie fest, sah aber nicht hinein - sondern ganz ruhig in sein Gesicht. Nun sagte sie: "Reite nach Lengefeld, aber nicht über Forchheim. Achte auf den Weg im Dunklen. Meide das freie Feld, so gut es geht. Dann wirst Du gut ankommen. Den Vater Deiner Braut wirst Du wahrscheinlich nicht mehr retten können, aber Martha und Du und Eure Familien - ihr werdet leben. Und Distel auch." Sie lächelte.

 

Michael war überrascht und erschrocken. Woher wusste diese Frau das alles? Woher kannte sie seinen Namen, den Marthas und sogar den Spitznamen seines Hengstes? Er hatte sich verwirrt zur Satteltasche umgedreht, um ein Geldstück für die Zigeunerin herauszuholen. Sie nahm es, neigte dankend den Kopf und wünschte ihm gute Reise.

 

Damit schickte sie ihn weg, sofort. Keine Zeit mehr für neue Fragen.

 

***

Im Haselbachgrund
Im Haselbachgrund

 

Michael folgte dem Rat der Frau und mied Forchheim.

 

Unterhalb des Dorfes und des Schlossparks ging er zu Fuß. Dabei führte er Distel vorsichtig durch das sumpfige Dickicht. Einmal blieben sie kurz stehen: da war Kampflärm zu hören; der musste vom Schloss kommen. Das Getöse verstummte nach ein paar Minuten. Man hörte noch das wütende Geschrei eines Befehlenden. War es der Dicke?

 

Gut, dass sie dem Rat der Zigeunerin gefolgt waren und diesen Umweg genommen hatten. Pferd und Mann gingen rasch weiter. Manchmal wieherte und raunzte das Pferd leise, vor allem dann, wenn ein Nachttier zu hören war oder ein sumpfiger Fußabdruck von Michael oder Distel beim Zurücktreten schmatzte und gurgelte. Ab und zu fluchte der Mann, wenn er ins Wasser trat. Unheimlich, im Finstern. Der Hengst zerrte am Zügel, wenn er erschrak.

 

Auf diese Weise kamen sie langsam voran, aber - es ging. Und sie waren ziemlich sicher hier unten. Bald verbreiterte sich der Bach, Biber hatten ihn wohl angestaut. Michael und Distel gingen am Ufer entlang, blieben stehen, verschnauften.

 

Schön war die Nacht. Der Frühling war nahe.

 

Am angestauten Haselbach
Am angestauten Haselbach

 

Es war keine Zeit zu verlieren und außerdem trotz des stillen Ortes doch zu gefährlich zum Träumen. Michael wollte nicht erst nach Hause, ließ Reifland rechts liegen und ritt talwärts zur Flöha hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Was hatte die Zigeunerin gesagt? "Reite nach Lengefeld...."

 

So ritt er nach Lengefeld, jetzt vertraute er den Ratschlägen der Unbekannten.

 

Schloss Rauenstein am frühen Morgen
Schloss Rauenstein am frühen Morgen

 

Der Mann grüßte das Schloss Rauenstein, auf dem die Familie von Römer seit wenigen Jahrzehnten erst  ansässig war - jetzt aber, in den noch dunklen, kalten und sehr frühen Morgenstunden lag es ganz ruhig im Mondlicht, das große alte Haus. Schön. Ob bei den von Römers auch jemand krank war?

 

Michael trieb Distel zur Eile an; bergauf ging es auf Lengefeld zu. Ob man ihn am Stadttor einlassen würde? Das fragte er sich bang.

 

Man tat es nicht.

 

Und wenn er der Kaiser von China wäre, hier herein käme! er! nicht!

 

So nachdrücklich sprach die Wache und so ernst meinte der Mann das auch. Daran ließ er keinen Zweifel. Aber dieser Soldat war kein Unmensch. Er zeigte sich bereit, eine Nachricht dem Herrn Stadtpfarrer überbringen zu lassen und auch gleich mit einer Antwort zurückzukommen. Gesagt, getan. Statt einer Antwort kam der Pfarrer selbst: der Großvater von Martha - mit ihr. Da sie nicht zueinander durften, winkten sie und riefen sich Ermutigungen und Segenswünsche zu. Marha malte, hinter dem Großvater stehend, mit beiden Händen ein Herz in die Luft. Ihre Augen blitzten, das Haar leuchtete in der Dämmerung fast weiß. Der Wachsoldat rollte die Augen und wies Michael an, die Arznei-Flaschen vor dem Tor abzustellen und dann zurückzutreten. Dann kam der Soldat heraus, holte die Medizin und gab sie den glücklichen Empfängern. Von Michael hatte er für sein Entgegenkommen eine dicke Münze kassiert; die nahm er mit befugter Miene an.

 

Erleichtert ritt Michael nach Reifland zurück, die Mutter wartete sicher schon ungeduldig auf ihn. Ihr Sohn war erschöpft, voller Hoffnung und fühlte sich gut. Denn er hatte das Richtige getan. Jetzt lag alles Weitere in Gottes Hand. Schaffte Marthas Vater zu überleben? Wen würde noch der Tod holen in diesen Tagen?

 

***

 

Es war bereits hell.

 

Straße von Rauenstein hinauf nach Lengefeld
Straße von Rauenstein hinauf nach Lengefeld

 

In den nächsten Tagen und Wochen starben viele Menschen in Lengefeld, Reifland und Rauenstein an der Pest. In Forchheim, Sayda, Frauenstein und Freiberg. Und anderswo. Marthas Vater, dessen Zustand durch die Gabe der Freiberger Medizin zwar etwas gebessert wurde, hatte drei Tage später einen friedlichen und leichten Tod. Das Fieber war zurückgegangen, er spürte kaum noch Schmerzen, war unendlich matt und schlief endlich ruhig ein. Wer weiß, wie es ohne das Gebräu der Totengräber gewesen wäre.

 

Die anderen Familienmitglieder lebten. Martha lebte. Der Stadtpfarrer, Michaels Bruder, seine Mutter und der Vater lebten. Die alte Magd der Familie in Reifland, die Gerlinda, lebte.

 

***

 

Der Frühling machte Fortschritte, schon blühten die Apfelbäume, auch hier oben. Der Hengst Distel rannte ausgelassen über die Wiesen, stieg auf die Hinterbeine, ließ die Mähne im Wind flattern. Dann zeigte er die Zähne und wieherte markerschütternd. Und fraß die Blüten der jungen Disteln, die schmeckten ihm hervorragend - deshalb auch sein Spitzname.

 

Warum das alles? Der Hengst freute sich seines Lebens, einfach so. Und außerdem gab es auf der Weide gegenüber eine neue Stute. Hellbraun, mit weißer Nasenblesse.

 

So ein Frühling war das!

 

Kirchentür der Lengefelder Stadtkirche
Kirchentür der Lengefelder Stadtkirche

 

Bald wurde niemand mehr krank oder starb gar an der grässlichen Pest. Die Leute waren froh, gingen ihrer Arbeit nach und kümmerten sich um ihre Kinder. Sie liefen in die Kirchen und zum Tanz, zündeten Kerzen an, beteten, sangen auch weniger gottesfürchtige Lieder. Manche betranken sich übermäßig. Man wieder Zeit und Muse für allerhand Unfug.

 

***

 

Michael und Martha heirateten im Sommer, so wie die Zigeunerin es vorhergesagt hatte. Der Lengefelder Großvater traute sie in seiner Kirche; was für ein Glück das alles.

 

Noch ein paar Wochen vor der Hochzeit feierten Lengefelder, Rauensteiner und Reiflander Einwohner das Ende der Pest - und die Freude am Leben. Sie alle schleppten Speisen und Getränke heran, luden ein paar Musikanten ein. An einem Wiesenrain ungefähr auf Wegeshälfte zwischen Lengefeld/Rauenstein und Reifland tanzten, sangen, lachten, aßen und tranken alle bis in die Nacht.

 

Auch der Freiberger Totengräber wurde gedacht, die mit ihrer Essenz einen Teil zur Überwindung des Elends beigetragen hatten.

 

***

Hinter Fenstern in Lengefeld
Hinter Fenstern in Lengefeld

 

Noch heute wird ab und zu gerätselt, was wohl der Inhalt dieser geheimen Totengräbermedizin war. Eine Arznei, von den Bestattern der Toten hergestellt, um die Lebenden am Sterben zu hindern. Ein Freund vermutet, der Pesttrank der Totengräber könnte der Ursprung der Freiberger Magenwürze gewesen sein. Oder vielleicht auch des Lauterbacher Tropfens?

 

Wir wissen es nicht, da die Hersteller dieser traditionellen und regionalen Spirituosen natürlich ihre Zutaten geheimhalten.

 

Gemeiner Wacholder (Juniperus communis), Kleine Bibernelle (Pimpinella saxifraga), Arznei-Engelwurz (Angelica archangelica) und Schwarze Tollkirsche (Atropa Belladonna) galten in früherer Zeit, als man noch keine Antibiotika hatte, als sogenannte Pestkräuter. Man versuchte damit, diese verheerende Krankheit zu behandeln. Vielleicht verwendeten auch die Totengräber diese Pflanzen für ihr erfolgreiches Projekt.

 

 

***