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Sage vom Peststein bei Rauenstein (1)

Bei den Totengräbern

Von Reifland bis nach Lengefeld ist es nicht weit.
Von Reifland bis nach Lengefeld ist es nicht weit.

 

Geht man von Reifland nach Rauenstein ins Flöhatal hinunter, da sieht man rechts der kleinen Serpentinenstraße talwärts einen Rastplatz. Wer hier sitzt, hat einen sehr schönen Blick auf die gegenüberliegende Burg Rauenstein. An dieser Stelle ist man ungefähr auf halbem Weg zwischen den beiden Orten Rauenstein und Reifland.

 

Wahrscheinlich ist das der Platz, über den in der Sage Nr. 563 von Johann Georg Theodor Grässe berichtet wird. Der Peststein von Rauenstein muss sich hier befunden haben oder noch befinden. Den Ort werde ich mir nochmal genauer angucken; denn ich bin am letzten Samstag nur vorbeigerannt, um den Zug am Bahnhof zu erreichen.

 

Mit seinem steinernen Kollegen an der Pestsäule in Richtung Lippersdorf kann dieser Stein eigentlich nicht verwechselt werden, da die Lagebeschreibung eindeutig ist. Die Abendmahlsgeschichte der beiden Pfarrer kennzeichnet den Peststein zwischen Reifland und Lippersdorf. Unsere Geschichte hier geht jedoch auf einen Stein zwischen Rauenstein und Reifland zurück.

 

Den Originaltext zu unserer heutigen Geschichte findest Du in der Mediathek, siehe Button hier am Beitragsende. Was damals geschehen sein könnte, das liest Du jetzt. Pass gut auf:

 

Auf dem Weg von Reifland nach Freiberg in der Dämmerung
Auf dem Weg von Reifland nach Freiberg in der Dämmerung

 

Wir reisen weit zurück - ins Jahr 1680.

 

Der dreißigjährige Krieg ist seit reichlich drei Jahrzehnten zu Ende. Allein während seiner Zeit gab es vier Pestepidemien in Sachsen. Dann waren Krieg und Seuche vorbei. Langsam erholten sich auch die Bewohner des Erzgebirges von den grausamen Ereignissen dieser Zeit.

 

Nun aber war erneut die Pest ausgebrochen. Wer einmal angesteckt war, starb fast immer. Überlebende gab es wenige. Trotzdem versuchte man mit allerlei Arznei die Krankheit zu heilen, zu lindern wenigstens. Diese besondere Medizin konnte natürlich nicht jeder zubereiten; nur ein paar Sachkundige gab es weit und breit. 

 

Zum Beispiel in Freiberg, der großen Bergstadt am Fuße des Erzgebirges. Dort sollte es einige besonders versierte Totengräber geben, die Zugriff auf allerlei Heilsames hatten und außerdem wissende, unerschrockene, erfahrene Leute waren.

 

Auf dem Freiberger Donatsfriedhof
Auf dem Freiberger Donatsfriedhof

 

Nun war es gut, dass es wenigstens dieses Extrakt aus Essig und Kräutern gab. Sicher würde es Fieber senken, Schmerzen lindern, vielleicht sogar die Heilung bringen. Oder wenigstens den Tod erleichtern. So hörte man, so hoffte man. Wer es sich leisten konnte und einen Beschaffungsweg für das vielversprechende Mittel fand, der probierte es. Was hatte man zu verlieren.

 

***

 

Diese Gedanken machte sich auch Michael aus Reifland, Sohn eines wohlhabenden Bauern. Seit einem halben Jahr war die älteste Enkelin  des Lengefelder Stadtpfarrers seine Braut. Sie hieß Martha und war im wahrsten Sinn des Wortes ein helles Mädchen. Erstens war sie klug und schlagfertig, zweitens hatte sie Augen, Haut und Haare in der Farbe sehr hellen Bernsteins.  Ungewöhnlich war ihre Schönheit, eigenartig und geheimnisvoll. Vor allem im Sommer, wenn Marthas Haut sich leicht bräunte und damit dunkler war als Haare und Augen, da wirkte sie wie eine nordische Wölfin. Eine friedliche, meistens jedenfalls.

 

Dieses Mädchen hatte einen Vater, selbst Sohn des Stadtpfarrers, der nun an der Pest erkrankt war. Da Martha sehr an dem Vater hing, konnte sich Michael vorstellen, wie schlimm es ihr erging. Auch wird sie selbst Angst um ihr Leben haben, dachte Michael - um gleich darauf lächelnd den Kopf zu schütteln. Seine Marha war eines der mutigsten Mädchen, die er kannte. Sie hätte alles getan, um den Vater zu retten - ohne Rücksicht auf sich selbst.

 

Da saß Martha nun in Lengefeld fest, Michael in Reifland. Die hoffnungsgebende Arznei war in Freiberg. Überall dazwischen waren Soldaten, die alle Wanderungsbewegungen der Bevölkerung verhindern sollten. Jeder musste bleiben, wo er war - dann konnte er auch keinen anderen anstecken.

 

Dass die Ratten, mit ihnen die Flöhe, die Soldatensperren meist ungesehen und unbehelligt passierten und den Tod weitertrugen - das wusste man damals noch nicht.

 

Das Bachtal, gleich dahinter am Berg beginnt Reifland.
Das Bachtal, gleich dahinter am Berg beginnt Reifland.

 

An diesem kalten Märztag kam die Dämmerung früh.

 

Da fasste Michael einen Entschluss. Er würde nach Freiberg reiten, jetzt gleich. Der junge Bauer sattelte sein Pferd, steckte Geldmünzen, vier große Räucherwürste und vier Flaschen besonderen Branntwein in die Satteltasche. Dann führte Michael das Pferd gemächlich aus dem Dorf; wie ein von der Arbeit heimkehrender Bauer, nur in der falschen Richtung ....

 

Von weitem sah er die Feuer der Soldaten, die an diesem Abend sicher auch froren und sich Besseres wünschten. An einer zwischen zwei Feldhügeln versteckten und mit Gebüsch dicht bewachsenen Senke traten er und das Pferd in den Wald ein. Hier fanden sie in der letzten Dämmerung den Pfad Richtung Forchheim, am Bach entlang. Reiter und Pferd machten, dass sie fort kamen.

 

 

Michaels Pferd
Michaels Pferd

 

Am Niederforchheimer Schloss wollte Michael vorsichtig den im vollen Mondlicht liegenden Hauptweg überqueren, um in den gegenüberliegenden Wald zu kommen und in dessen Deckung weiter nach Freiberg zu reiten. Aber da erwischte ihn ein dicker Soldat, der dort einsam auf Nachtwache stand. Der Dicke langweilte sich, ihm war kalt und er hatte Hunger. Müde war er auch. Was für eine Drecksnacht, mit Wind und Schneeregen, so hatte er gerade vor sich hin geschimpft. Und nun auch noch dieser Bauer zu Pferde. Zeiten waren das, darauf war man weiß Gott nicht gefasst gewesen. Schlecht gelaunt also trat der Soldat bewaffnet in den Weg und knurrte Michael an: "Hier ist kein Durchkommen, Seuchensperre, geh auf Deinen Hof zurück!" Dabei hielt er ihm seine Hellbarde vor die Nase.

 

Da holte Michael eine Wurst und eine Flasche Schnaps aus dem Sattel und gab sie dem Dicken, lächelte und legte den Finger an die Lippen. Der Soldat freute sich zwar, hatte aber offenbar doch ein schlechtes Gewissen. Trotzdem ließ er Michael schließlich ziehen, sein knurrender Magen und sein gutes Herz siegten. Genau in der Reihenfolge.

 

Zwei Stunden später hatte Michael fast die Stadttore von Freiberg erreicht, wo der Friedhof lag. Die Wirkungsstätte der berühmten Totengräber. Der Entstehungsort der rettenden, göttlichen Medizin. Ein hoffnungsspendender und trotzdem auch gottverlassener Ort, wie es schien.

 

***

 

Das Friedhofstor war verschlossen, ebenso die Kirche. Doch aus einem kleinen steinernen Gebäude zwischen Kirche und Friedhofsmauern drang ein schwacher Lichtschein aus kleinen Fenstern, die in sehr dicke Mauern eingelassen waren. Undeutlich konnte man Männerstimmen hören, die im Augenblick von Michaels Klopfen sofort verstummten. Schweigend kam ein Schwarzgekleideter heraus, der leicht hinkte. Der Totengräber betrachtete ihn ruhig; forderte ihn dann zum Sprechen auf, zu sagen, was er denn wolle.

 

Da erzählte Michael ihm alles, so kurz er es vermochte. Der andere schwieg, nickte und bat Michael herein. Drinnen waren zwei weitere Männer, schwarz gekleidet mit einer großen Kapuze, so wie der erste. Sie hantierten hier in einer Art Kräuterküche; es brodelte, siedete, dampfte und roch nach Pflanzen, Alkohol und Bienenwachs. Überall standen leere Glasflaschen, Dosen und Töpfe. An den Wänden hingen getrocknete Kräuter und Pilze. 

 

Einer der Männer hatte eine breite Narbe quer über der rechten Augenbraue, dem anderen fehlten zwei Finger der linken Hand. Eine dicke rote Katze saß blinzelnd auf der Ofenbank. Auch sie war ein wenig beschädigt wie ihre menschlichen Genossen; das halbe linke Ohr des Tieres war nicht mehr da.

 

 

Mondlicht kann gefährlich sein.
Mondlicht kann gefährlich sein.

 

Als Michael an seine Bienen daheim dachte, da wurde ihm das Herz leichter, die Beklommenheit wich etwas. Er fasste Mut und brachte sein Anliegen hervor. Die drei Männer setzten sich mit ihm an den rohen Holztisch in der Raummitte und hörten ihm zu, als er nun ausführlicher von seiner Heimat Reifland, der Stadt Lengefeld, der Pest, den Soldaten und schließlich seiner Braut Martha und ihrem kranken Vater berichtete. Die Totengräber nickten anerkennend. Sie wussten wohl, was der verbotene Ritt von Reifland nach Freiberg kosten konnte: das Leben. Ein mutiger Mann, dieser Reiflander Bauer, Respekt.

 

Einer stand auf und holte vier grobe Tonbecher, goss eine klare Flüssigkeit aus einer dunklen Glasflasche hinein. Dann tranken sie alle schweigend, der Schnaps schmeckte klar, scharf und bitter - es waren Wacholderbeeren darin; wahrscheinlich noch Knoblauch und Kümmel.

 

Nicht nur Michael hatte sich in Gefahr gebracht. Auch die Totengräber durften nicht mit einem Auswärtigen hier sitzen. Wurden sie verraten, dann konnten ihnen sogar ihre eigenen Tränke nicht mehr helfen. Lange sprach keiner. Dann sagte der, dem die Finger fehlten, dass es schon lächerlich sei, weil man hier in der Totengräberküche wirklich alles Mögliche und Unmögliche habe, nur nichts zu essen. Und er hätte einen Riesenhunger. Da legte Michael die drei riesigen Rauchwürste auf den Tisch, für jeden der Totengräber eine. Das entschied die Lage.

 

Michael bekam zwei Literflaschen mit dem Freiberger Kräuterdestillat. Da dankte er, bezahlte und verließ erleichtert das Totengräberhaus.

 

Der Mond schien immer noch hell, das war ungünstig für seinen Heimweg; aber - das konnte man sich auch schon damals nicht aussuchen, das Wetter war, wie es war.

 

***

Auf dem Freiberger Friedhof
Auf dem Freiberger Friedhof

 

In Teil 2 erfährst Du morgen, was mit Michael und den Totengräbern passiert. Und ob der Vater von Martha gerettet werden kann....