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Mensch und Maulwurf: ein Dialog (34)

Lärm und Geräusch

 

An diesem Wochenende findet eine Art Stadtfest in unserer Wohngegend statt. Leute flanieren durch die Straßen und Gassen, Geschäfte und Restaurants sind geöffnet. Kleine Karussells, Fressbuden und Bierwagen stehen in der Stadt. Alles ist am Abend schön beleuchtet; man hört Musik. Verschiedene. Und laut.

 

Das Wetter ist spätsommerlich; abends schon etwas frischer, aber angenehm. Der Regen hält sich zurück.

 

Der Maulwurf hält sich die Ohren zu und guckt giftig zum Fenster raus. Wir trinken einen abendlichen Kaffee an diesem Samstag. Und freuen uns über die freie Zeit am Wochenende.

 

Eigentlich.

 

***

Stadt ist schön .....
Stadt ist schön .....

 

Maulwurf (genervt): "Orr, dieser Lärm, der macht mich ganz irre ...."

Yvonne (beruhigend): "Du, wir wohnen in der Stadt. Das haben wir uns mal so ausgesucht. Weil wir hier einen schönen Altstadtkern haben, weil man alles ringsherum gut und schnell erreichen kann, weil man spontan Dinge unternehmen kann, ohne sich groß vorzubereiten - und man trotzdem schnell in der Natur ist.... Das sind die Vorteile. Das Schlechte daran ist halt der Lärm bei solchen Festen."

Maulwurf: "Wenn ich dran denke, wie gut es riecht, wenn unten der Weihnachtsmarkt aufmacht, hmmmmm."

Yvonne: "Ja, stimmt, dieser Duft nach Krapfen, Glühwein, Fichtengrün, Zuckerwatte und Gebratenem - das ist schön. Wir sind ja auch gerade so weit entfernt, dass uns das Weihnachtsliederspielen von früh bis spät und das Karussellgehupe nicht stört. Wenn Dein Haus aber direkt da gegenüber steht, bist Du wahrscheinlich bis zum Heiligabend schon zum Grinch mutiert."

Maulwurf (grimmig): "Oh ja, was zuviel ist, ist zuviel. Es ist auch heute alles durcheinander und wirklich sehr laut, viel mehr als auf dem Weihnachtsmarkt.... (hält sich die Ohren zu) ...."Und diese Trommeln, furchtbar! Ich habe schon Angst, dass jeden Moment die Kannibalen zur Tür reinkommen und uns im Topf kochen ...."

Yvonne (lacht): "Vorsicht, kein Rassismus - aber Du hast recht. Das Trommelgetöse geht mir auch auf den S......, ich meine auf die Nerven."

Maulwurf: "Komm, wir gehn nach hinten in die Wohnung, Da ist es ruhiger als hier."

 

***

 

Beide verlassen den gemütlichen Wohnzimmererker, von dem aus man einen perfekten Überblick über die alte Stadt und das festliche Treiben hat. Sie wechseln in ein stilles Zimmer, dessen Fenster zur Hofseite hin geht, dort ist es dunkel und ruhig.

 

... Land aber auch.
... Land aber auch.

 

Maulwurf (erleichtert): "Hach, eine Erholung...."

Yvonne: "Oh ja. Vielleicht sollten wir mal ans Umziehen denken?! So in ein schönes Haus am Waldrand, fern von Getrommel, Getöse, Festtrubel und sonstigem Lärm."

Maulwurf (überlegt, guckt skeptisch): "Aber der Weihnachtsmarkt ist ja dann auch nicht da.... Und das Kino. Und das schöne italienische Restaurant.... Und Herr Hoa erst.... "(Ihm gehört unser Oberlieblings-Asia-Imbiss.) "Und wenn Du mal die Butter vergessen hast oder schnell drei Stück Torte frisch vom Konditor holen oder ein Stündchen in den Biergarten willst oder zum Zahnarzt oder in die Eisdiele...."

Yvonne: "Dann ist Waldrand schon ungünstig. Ja, ent- oder -weder. Oder so."

Maulwurf: "Und in der Nähe des Waldrands gibts garantiert jede Menge Kreissägen und andere lärmende Gerätschaften....Schon blöd, dass man sich immer irgendwie entscheiden muss...."

Yvonne (nickt): "Das ist ein wahres Wort, mein Lieber. Noch ein Käffchen?"

Maulwurf (streckt seinen Becher vor): "Aber immer!"

Yvonne (gießt ein, dann gespannt): "Gibts noch einen Klassiker des Tages heute? Oder fällt Dir nix Passendes ein, weil die Trommeln Deine Kreativität stören?"

Maulwurf (lacht generös und ein wenig spitzfindig): "Was denkst Du denn, Mylady. Heute gibts extra ein ganzes Gedicht, sozusagen als Lärmausgleich. Das Werk eines alten weißen Mannes neutralisiert den archaischen Trommelrhythmus. Mindestens. Pass auf:

 

Kurt Tucholsky

 

Das Ideal

 

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

 

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

 

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.


Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

(1927)

 

Quelle: https://www.mumag.de/gedichte/tuc_k02.html

 

***

 

Der Maulwurf hat das Gedicht aus einem alten Buch vorgelesen. Am Ende angekommen, hält er kurz inne, blättert die Seiten um und wirkt etwas irritiert. Ich lausche gerade noch den wahren Worten nach und sehe jetzt in Pawels ratloses Gesicht.

 

"Was ist los?" frage ich ihn. "Äh, was sind denn 'Käten', fragt er und guckt mich forschend an. "Das, äh, .... ja, DAS.... ist - wieder eine andere Geschichte." sage ich schlau. Und damit muss er sich, zumindest für heute, zufrieden geben.