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Hervorgeholt: Guten Abend, junge Frau!

Ein unvergessliches Erlebnis

Foto: “Funk und Fernsehen der DDR”, Nr. 17/1964, Seite 19; im Bild: Manfred Richter und Helena Majdaniec
Foto: “Funk und Fernsehen der DDR”, Nr. 17/1964, Seite 19; im Bild: Manfred Richter und Helena Majdaniec

 

Auf diesem Foto siehst Du den in Magdeburg geborenen Schauspieler Manfred Richter in seiner ersten Filmrolle 1964, hier mit seiner Partnerin Helena Majdaniec. Dieser TV-Film hieß "Titel hab ich noch nicht". Regie führte der berühmte Ulrich Thein ("Martin Luther" 1983). Von dem war Herr Richter, der damals noch als Dreher arbeitete und in seiner Freizeit boxte, entdeckt worden. Beim Boxen. Da war er gerade zwanzig Jahre alt.

 

Später hat er Schauspiel studiert und an mehreren Theatern gearbeitet, unter anderem in Berlin, Dresden und Freiberg / Sachsen. Wir kennen ihn aus vielen Fernseh- und einigen Kinofilmen. Da spielte er in Polizeiruf 110, "Der Staatsanwalt hat das Wort" und später auch im Tatort mit. Ab und zu kommt uns manchmal seine Stimme bekannt vor, denn er arbeitete auch als Sychronsprecher.

 

Ich hatte das Glück, ihn persönlich kennenzulernen. Denn er war einige Jahre der Kollege meiner Eltern am Freiberger Stadttheater.

 

Mit Manfred Richter hab ich eine Geschichte erlebt, die ich Dir heute erzählen will. Also, pass auf:

 

www.oldthing.de / Manfred Richter (1944 - 2012)
www.oldthing.de / Manfred Richter (1944 - 2012)

 

Bevor das Freiberger Stadttheater in den 1980er Jahren völlig umgebaut wurde, hatte es seinen Bühneneingang an der Weingasse. Schräg gegenüber des Bühneneinganges lag ein altes Haus, das in seinem weiträumigen Erdgeschoss den "Theaterclub" beherbergte. Das war eine Mischung aus Kantine, Kneipe, Diskussionsclub, Party- und Besprechungsort. Es gab sogar ein geheimnisvolles Hinterzimmer mit konspirativ in einem großen Viereck aufgestellten Tischen und einem Klavier. Dort war es im Winter immer eiskalt, weil es nicht geheizt wurde. Im vorderen Clubraum dagegen stand ein riesiger hellbrauner Kachelofen, der den großen Raum warmhielt. 

 

Heute ist in diesem alten Haus unten, wo die Clubräume früher waren, eine Wohnung drin. Hier ein Bild, wie es da jetzt aussieht, komplett saniert. An den alten Clubfenstern stehen nun Blumenkästen, eigentlich ein komischer Anblick. Für mich.

 

Denn hier saßen früher die Theaterschaffenden nach getaner Arbeit oder kurz während ihrer Pause. Man konnte Sänger, Schauspielerinnen, Techniker, Regisseure, Musiker, Theatermaler hier treffen. Da meine Eltern beide Schauspieler waren, durfte ich als Kind schon mit in den Club hinein. Denn das war ein Insidertreff und keine beliebige Kneipe. Nur, wer hier jemanden der Theaterleute kannte und von denen für gut befunden wurde, durfte in den Club. Man war unter sich.

 

Das war auch gut so, denn hier saßen die Künstler teilweise in Kostüm und Maske, eine exotische, intime Sache.

 

Der alte Theaterclub in der Weingasse (gelbes Haus, Erdgeschoss)
Der alte Theaterclub in der Weingasse (gelbes Haus, Erdgeschoss)

 

Eines kalten Abends ging ich mit meinen Eltern vom Theaterbühneneingang aus in den Club. Sie hatten gearbeitet und ich war mit. Nun wollten wir noch was essen und trinken, damit man nicht erst noch zu Hause anfangen musste herumzuzaubern. Im Club gab es Bier und Limo, Bockwurst und Buletten. Tee und Kaffee. Und wenn es kalt war, heiße Zitrone in dicken Gläsern.

 

Ich ging hinter Vater und Mutter durch die schwere Eingangstür des Clubs. Wegen der Kälte war an dieser Tür von innen ein dicker Filzdeckenvorhang angebracht, damit es nicht jedesmal beim Öffnen der Tür eiskalt vom Hausflur aus in den Raum zog. Eine Art Schleuse. In dieser Schleuse also stand ich plötzlich allein, weil ich nicht schnell genug hinter meiner Mutter durch den Vorhang geschlüpft war.

 

Da plötzlich wurde der Vorhang von der anderen Seite vorsichtig zur Seite gezogen und aufgehalten. Es hatte jemand bemerkt, dass ich noch nicht da war. Und da stand der Schauspieler Manfred Richter vor mir, lächelte mich an und sprach: "Guten Abend, junge Frau!"

 

Ich war damals auf jeden Fall noch kein Schulkind, ich denke, so fünf, sechs Jahre alt. Aber mit Sicherheit war ich ein richtiges großes Mädchen, deswegen konnte mir auch schon mal jemand gefallen. Zum Beispiel Herr Richter, den ich früher schon kennengelernt hatte. Kerzengerade und mit sicher hochrotem Kopf ging ich an ihm vorbei in den Clubraum hinein.

 

Ich war fix und fertig. "Junge Frau" hatte er mich genannt !!! Mich, die es nicht erwarten konnte, eine solche zu werden. Nachdem ich mich von dem Schock erholt hatte, war ich froh und stolz. Nun war ich gleich ein Stückchen größer, erwachsener und - schöner, dachte ich mir. Das Ganze hat so einen starken  Eindruck auf mich gemacht, dass ich es bis heute noch genau weiß, wie ich mich da gefühlt habe - nämlich ganz und gar großartig! Ich betrachtete mich zu Hause im Spiegel, ob man irgendeine Veränderung sah. Unglaublich.

 

Was für ein tolles Leben, wenn es sowas bereit hält.

 

Stadttheater Freiberg, 1976 (Ansichtskarte, www.picclick.de)
Stadttheater Freiberg, 1976 (Ansichtskarte, www.picclick.de)

 

Später dann arbeitete Manfred Richter als freischaffender Künstler. Er verließ das Freiberger Theater. Über Kollegen und Freunde meiner Eltern hörten wir ab und zu etwas von ihm. Wie es ihm ging und was er so machte. Immer, wenn von diesem Mann die Rede war, dachte ich an den besonderen Club-Abend vor langer Zeit.

 

Ab und zu sahen wir ihn im Fernsehen.

 

Vor einigen Jahren ist Manfred Richter gestorben, 2012 in Berlin.

 

Er wird das nie erfahren haben, wie glücklich er an irgendeinem vergangenen Winterabend in Freiberg ein kleines Mädchen gemacht hat. Mich.

 

Danke, Manfred.

 

www.castforward.de / Foto: Gerlinde Richter
www.castforward.de / Foto: Gerlinde Richter

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Der Maulwurf betrachtet mich kritisch. Wahrscheinlich versucht er gerade, sich vorzustellen, wie ich mit fünf Jahren ausgesehen habe.