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Hervorgeholt: Im Kirschbaum

Erinnerung an Glück und Zuckerbemme

Anfang April sieht die Kirsche noch so aus......
Anfang April sieht die Kirsche noch so aus......

 

Gerade fangen die Kirschbäume um uns herum an zu blühen. Weiß werden die Bäume leuchten, danach sieht man die winzigen grünen Kirschen, die in wenigen Wochen zu saftigen Früchten reifen.

 

Was dann passiert, dazu hier: 

 

www.pixabay.com / Efraimstochter
www.pixabay.com / Efraimstochter

 

Bald ist wieder Kirschenzeit.

 

Dazu ist mir jetzt eine alte Geschichte eingefallen. Lust darauf ? Na, dann:

 

***

 

Als Kind fuhren meine Eltern im Sommer immer mit mir in den Urlaub. Und zwar ein paar Mal in einen kleinen Ort in der Lausitz. Es gab dort Wald, Wiesen, Berge, einen Aussichtsturm, einen Steinbruch mit Krebsen drin, ein Kino und - einen Kirschgarten.

 

Dieser Kirschgarten gehörte den Wirtsleuten unseres Urlaubsquartiers, einem freundlichen Paar. Die beiden waren schon ziemlich alt und gebrechlich. Außer ihrem Wohngrundstück besaßen sie noch einen zweiten Garten außerhalb des Ortes an der Landstraße. Das war eigentlich nur eine riesige Wiese mit Obstbäumen drauf, hauptsächlich Kirsche, süß und sauer, hellgelbrot-leuchtend bis  dunkel-glänzend.

 

Im Sommer, als wir dort waren, gab es reife Kirschen im Kirschgarten. Nur war keiner da, der sie ernten und in diesen Mengen essen oder verarbeiten würde. Niemand wollte sie haben. Alle Leute hatten dort Gärten und Kirschen. Man wusste scheinbar nicht, wohin damit. Tonnenweise wurde eingeweckt und Marmelade gekocht. Die Gläser stapelten sich in den Vorratsregalen der Haushalte. Für mich als Stadtkind völlig unbegreiflich. Also bekam ich den Schlüssel für das alte Gartentor. Ich war neun Jahre alt und fand das sehr abenteuerlich. Ein eigener Garten, ganz allein, ohne Erwachsene. Und Kirschen essen, soviel man will!

 

Paradiesisch. Ich war begeistert und konnte es nicht erwarten, endlich dahin zu kommen.

 

Nachdem wir, der Ferien-Opa und ich, nun einmal gemeinsam zum Garten gegangen waren, durfte ich  immer allein dahin. Option: Mach, was Du willst. Pflück und iss Kirschen, aber bring nicht soviel mit. Wir haben hier alle schon übergenug.

 

Ich verbrachte den Sommer zu großen Teilen in diesem Garten und auf dem Weg hin und her. Erinnere ich mich richtig, brauchte ich halb rennenderweise so zwanzig Minuten von der Ferienwohnung zum Kirschgarten.

 

Die Bäume waren alt und knorrig, mittel bis groß und sehr gut zum Klettern geeignet. Die Baumrinde hellgrau-glatt und glänzend bei den einen und schuppig rauh und grob bei den anderen.  Da ich dort ungestört war, mich keiner sah und irgendwas meckerte, konnte ich klettern, runterfallen, wieder aufstehen oder auch liegenbleiben, es nochmal probieren - ganz wie ich wollte. Bäume mit Kirschen gab es genug. Nicht alle würde ich abessen können, das war mir schon am ersten Gartentag klar.

 

Aber wie bei allem, wovon man nicht alles haben kann (und das auch ganz genau weiß) - so kann man es wenigstens versuchen.

 

Ich gab mein Bestes.

 

***

 

 

"Kirschenmädchen" von Martina Hoffmann (www.stiftundpapier.de/onlineshop/)
"Kirschenmädchen" von Martina Hoffmann (www.stiftundpapier.de/onlineshop/)

 

Dort im Sommer im Kirschbaum zu liegen, Kirschen zu essen, zu träumen, den Vögeln und Grillen zuzuhören, im Garten herumzustöbern - es gab auch einen alten Schuppen mit interessantem Gerümpel - das war echtes Glück. Nicht nur von jetzt aus, im Nachhinein gesehen. Sondern ich erinnere mich genau, wie ich dort im Baum gesessen habe und mir dachte: DAS isses! Und vollkommen glücklich war. Einfach so.

 

***

 

Mir ging es also ganz wunderbar dort. Nicht nur im Kirschgarten, auch sonst so. Die Eltern ließen mich meistens in Ruhe, guckten nur, ob ich nach Stunden nicht von der Schaukel gefallen war. Oder betrachteten aufmerksam meine Malereien, die ich in ein extra dafür mitgenommenes Heft machte. Wasserfarbe, Filz- und Bunstifte, "Bleier" und einen ganz supermodernen Vierfarbkuli hatte ich auch.  Manchmal gingen wir Eis und Schnitzel essen oder ins Kino.

 

Meine Ernährung bestand aus 80 % Kirschen. In den anderen Teil, die restlichen 20 %, gehörte eine für mich damals neu entdeckte Spezialität: die Zuckerbemme. Irgendeine Scheibe Brot (hell, dunkel, egal) mit Butter oder Margarine, dann Zucker draufgestreut, reichlich - fertig. Lecker.

 

Zuhause hatte es das bisher nicht gegeben. Hier im Urlaub hatte ich mir diese Bemme mal beim Essen von einem Jungen am Nachbartisch beim Urlauber-Frühstück abgeguckt. Der verspeiste Unmengen dieses süßen Brotes, während seine daneben sitzende Oma über den vielen Zucker und dass der schlecht für die Zähne sei jammerte. War auch klar, dass ich das nachmachen musste. So brauchte er nicht mehr alleine die scheelen Blicke der Großmutter und ihr Gemecker zu ertragen, auch mich betrachtete sie ab sofort missmutig und tadelnd. Sagte aber nichts, da sie ja schließlich nicht meine Oma war. Zum Glück. Dicke Zuckerschichten verklebten unsere Brotmesser. Herrlich.  Mit dem Bemmen-Erfinder, einem Zwölfjährigen mit schlauer Brille, verstand ich mich gut.

 

Seinen Namen habe ich vergessen, hier sei ihm nochmal gedankt für diese  unverwüstliche Zuckerbemme.

 

 

 

***

 

Ab und zu denke ich an den alten Kirschgarten. Vielleicht gibt es ihn noch?  Vielleicht steht auf seinem Grundstück ein neues Haus. Vielleicht ist der Garten Teil eines Gewerbegebietes geworden. Oder Obstwiesen-Naturschutzgebiet. Wer weiß. Etwas lockt mich dorthin, zu gucken, was da jetzt ist. Auf der Suche nach Glück sozusagen. Vielleicht mache ich es diesen Sommer mal, fahre dahin und sehe, was ist.

 

Und selbst, wenn an der Stelle des alten Gartens heute ein Parkplatz sein sollte oder - noch schlimmer - ein Drogeriemarkt, so gibt es immer noch die wunderschöne Umgebung des kleinen Ortes. Den Wald, den Steinbruch, die alten Wege und den Aussichtsturm. Die Reise wäre also auch im negativsten Fall nicht umsonst. Gucke ich mir das Satellitenbild dieser Gegend an, kann ich den genauen Ort des Gartens nicht sicher finden. Ich muss also wirklich da hin, so wie es aussieht.

 

Aber stell Dir vor, wenn der Garten noch da wäre!

 

Und noch so verlassen wie damals. Das alte Gartentor hängt ein wenig schiefer in den Angeln als früher. Die Bäume sind fast alle noch da und ganz schön gewachsen. Etwas kleinere gibt es auch dazwischen, vielleicht aus den von mir damals ausgespuckten Kirschkernen....Das Tor nur angelehnt, nicht verschlossen. Vorsichtig schiebe ich es auf. Es hängt in Brennesseln, Goldrute und rankendem Wiesenschaumkraut fest, aber ich komme dann doch hinein.

 

Ich gehe durch das hohe Gras. Bienen und Käfer summen. Die Feuerwanzen, die ich immer Indianerkäfer nannte, sitzen entspannt in der Sonne. Vorhin hat es geregnet. An manchen Stellen ist es noch nass und es quietscht beim Laufen. Grillen zirpen jetzt. Vögel singen träge. Es ist bald Mittag und ziemlich heiß. Von weitem hört man eine Kreissäge (wie überall). Der Garten ist verwildert und bietet viel Schatten. Windbruch liegt unter den Bäumen, der alte Schuppen ist noch da und sieht kleiner aus als damals. Eine alte Kaffeebüchse voller Schrauben, Nägel und sonstigem Kleinzeug steht im Schuppenfenster. Ein paar Münzen sind auch mit drin. Das klappert schön beim Schütteln. Manchmal kommt eine fremde Katze vorbei.

 

Es gibt keine betonierte, geflieste Terasse. Keinen Grill, keine Plastikgartenmöbel, kein Carport, keine sorgsam gestapelten Getränkekästen, keine irgendwie geartete Ordnung. Ein einsamer Wasserhahn ragt an rostigem Rohr trotzig aus dem Boden. Lang herabhängende Zweige sind schwer von großen roten und fast schwarzen Kirschen. Ihre Schattenmuster bewegen sich auf dem Boden.

 

Ich suche mir einen passenden Baum und klettere hinein. Ja.

 

Und dann liege ich da in der Astgabel, esse Kirschen, spucke Kerne und bin glücklich.

 

www.pixabay.com / congerdesign
www.pixabay.com / congerdesign

 

***

Natürlich wird der Maulwurf mit dabei sein, wenn wir dahin fahren.

 

Irgendwo ist der Kirschgarten....(Foto: Uwe Schwarz)
Irgendwo ist der Kirschgarten....(Foto: Uwe Schwarz)