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Tante A.

Alpenveilchen, Wellensittich und die Vergangenheit

 

Zum festen Bestandteil meiner Familie gehörte, seit ich denken und mich erinnern kann, Tante A..

 

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Immer, wenn ich ein besonders großes, fettes und prächtiges Alpenveilchen sehe, fällt mir sofort Tante A. ein. In den großen Fenstern ihrer schönen Wohnung im Leipziger Stadtteil Gohlis standen immer dicht an dicht mehrere dieser Blumentöpfe. Hier gediehen sie besonders gut, denn ich erinnere mich über meine gesamte Kindheit an stramme Blütenstengel und üppiges Blattwerk unter der pflegenden Hand Tante A.s.. Doch sie war nicht nur eine hervorragende Alpenveilchenbetreuerin, sondern hatte auch einen zahmen Wellensittich, kochte sehr gut und schätzte selbst gutes Essen.

 

In meiner Erinnerung ist sie immer gut gelaunt, lustig und erzählt gerne witzige Geschichten.

 

Ihre Wohnung war mit erlesenen Möbeln und Bildern ausgestattet. Tante A. besaß besonders schöne Gläser und wertvolles Geschirr.

 

A. war die beste Freundin meiner Oma. Beide kannten sich schon als Kinder, wohnten nicht weit voneinander entfernt und gingen gemeinsam zur Schule. Über Jahrzehnte, bis zu ihrem Tod, waren die Freundinnen sich treu. 

 

Als Kind guckte ich mir gerne die alten Fotos im Album meiner Großeltern an. Schwarzweiß, mit einem weißen Zackenrand. Einige zeigten die Oma und Tante A. als Mädchen und junge Frauen. Beide waren sehr hübsch. Tante A. hatte besonders weiße Haut, dazu im Kontrast von Natur aus dunkelrote Lippen und brünettes Haar. Schmale, sehr helle Augen und oft ein verschmitztes Lächeln. Ein seltener, etwas geheimnisvoll aussehender Frauentyp.

 

Irgendwann erlernten beide Freundinnen einen Beruf und gingen arbeiten. Der Krieg begann, ereilte aber vorerst noch nicht die deutschen Städte. Meine Oma lernte den Opa kennen. Beide heirateten noch während des Krieges. Tante A. traf auch einen jungen Mann und verlobte sich mit ihm. Die Männer der Freundinnen waren Soldaten und zogen in den Krieg. Die Frauen blieben daheim und erlebten bald die Bombennächte von Leipzig, sahen Tod und Zerstörung, die großen Brände. Und sie sorgten sich um ihre Männer fernab der Heimat.

 

Mein Opa kam zum Kriegsende nach abenteuerlicher Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft heim. Tante A.s Verlobter nicht. Es hätte auch umgekehrt sein können.

 

Sicher gönnte Tante A. meiner Oma ihr Glück. Doch es zeigte ihr immer auch, was sie nicht hatte und wofür sie nichts konnte. In den nächsten Jahren erlebte sie, wie meine Oma ein Kind bekam und mit ihrer kleinen Familie in eine neue, schöne Wohnung zog. Einmal sagte sie zu meiner Oma, dass sie sich selbst manchmal sehr einsam fühle. Denn eine neue Partnerschaft ging sie nicht ein, sondern dachte wahrscheinlich noch lange an ihren gefallenen Verlobten. Tante A. hat "den Richtigen" später nie mehr getroffen.

 

Sie verlor aber ihren Humor nicht, arbeitete und kümmerte sich um ihre älter werdende Mutter. Tante A. hatte einen großen Freundeskreis und war eine gesellige Person. Viele Leute mochten die sympathische, lustige Frau. Wie allein sie sich manchmal gefühlt haben muss, das wußten nur ihre engsten Vertrauten wie meine Oma. A. wurde die unverheiratete ältere Tante in der Familie, blieb ohne Mann und Kind und gehörte zu einer Frauengeneration, die durch Krieg, Nachkriegszeit und "Männermangel" gestraft war.

 

Auch mich, das Enkelkind ihrer besten Freundin, begleitete sie später durch meine gesamte Kindheit. Oft war sie zu Besuch oder wir gingen zu ihr. Bei jedem Familienfest der Großeltern war sie dabei, brachte mir etwas mit und erfreute uns alle mit lustigen Geschichten, Witzen, Anekdoten, die sie vorzüglich zu erzählen wusste.

 

Vor einigen Jahren starb Tante A., ebenso meine Oma. Bis zuletzt waren sie Freundinnen, besuchten sich und telefonierten miteinander.

 

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Immer, wenn ich schöne Alpenveilchen sehe, denke ich an Tante A. Gerade steht wieder eines in meinem Fenster.