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Hervorgeholt: Mein alter Lehrer

Denken an Herrn F.

Wandtafelzeichengeräte / www.lehrmittel-vierkant.de
Wandtafelzeichengeräte / www.lehrmittel-vierkant.de

Heute habe ich Dir mal wieder eine alte Geschichte herausgekramt. Ich hoffe, sie macht Dir Freude. Da ich das Anfang des Jahres schrieb, wundere Dich bitte nicht über den Nachtrag vom Februar......:

 

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Als ich elf war, bekam unsere Klasse einen neuen Mathelehrer. 

 

Wir kannten ihn schon vom Sehen. Im Schulhaus und beim Mittagessen, auf dem Pausenhof oder zu Veranstaltungen erschien er, der Lehrer der "Großen". Er wirkte durchaus respekteinflößend, aber nicht bösartig. 

 

***

 

Ich habe Mathematik als Fach in der Schule und im Studium immer gerne gehabt. Das Abstrakte, dass in einem von Gefühlen oder sonstigen subjektiven Störungen freien Raum ein zeitloses, logisches, freies Dasein lebt. Und trotzdem den direkten Bezug zur Realität hat. Das Fallen eines Steines kann mit einer Formel beschrieben werden.

 

Mathematische Gesetzmäßigkeiten gelten unter bestimmten Voraussetzungen immer. So etwas wie die sie umgebende Gesellschaftsform, das Geschlecht des Mathematikstudierenden, das Wetter oder ob jemand Kopfschmerzen hat, verliebt ist oder welche Schuhgröße er sein eigen nennt - das interessiert und betrifft die Mathematik nicht.

 

Erst als ich etwas älter wurde, verstand ich das. Das Schöne daran. Wenn Subjektivität keinen Platz hat, so wie in anderen Sparten.

 

War man zum Beispiel  Maler wie van Gogh, konnte man die schönsten Bilder machen. Die meisten Menschen um einen herum sahen es einfach nicht und lachten einen aus. Man hungerte, war gesellschafltich unten durch und kam auf keinen grünen Zweig.  Hundert Jahre später werden Millionen bezahlt für die einst so verachteten Werke. Nur nützt es jetzt dem begabten und fleißigen Maler nichts mehr. Vincent van Gogh wurde nicht mal vierzig Jahre alt und hinterließ eine große Anzahl von Bildern. Auf der ganzen Welt kennt man sie heute. Van Gogh gilt als Begründer der modernen Malerei.

 

Oder ein Schauspieler. Lernte sich die Seele aus dem Leib, arbeitete mit ganzer Person am Verständnis der Rolle. An der Darstellung dieser Geschichte auf der Bühne. Nur um dann vom Publikum ausgebuht oder gar ignoriert zu werden und in der Kritik zu lesen, welch hölzernes und degeniertes Machwerk man abgegeben habe. Deprimierend. Ungerecht. Bitter.

 

Nicht so in der Mathematik.

 

Manch anderer findet sie langweilig, unzugänglich, unnötig, beängstigend, zu schwer ("Mathe ist ein Arschloch"). 

 

Mir ging und geht es nicht so. Und auch, dass es einen Unterschied zwischen Rechnen und Mathematik gibt, begriff ich irgendwann mal. Neue Welten erschließen sich Dir, beschäftigst Du Dich eingehend damit. Nur: Denken tut manchmal weh. Wer sich ausbildungsbedingt mit Differentialgleichungen, Extremwertaufgaben und Stochastik beschäftigt hat, der weiß auf jeden Fall, was ich meine. Um so faszinierender, hat man diesen Totpunkt überwunden und eine Lösung erarbeitet. So mit einer Kanne schwarzem Kaffee, verstärkt mit  einem Pfund Traubenzucker nachts um drei, vor Abgabe einer wichtigen Belegaufgabe im Studium zum Beispiel. Ein wirklich gutes Gefühl.

 

Ohne Google und youtube-Tutorials oder sonstige doppelte Böden. 

 

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Aber zurück in die Schule:

 

Faszinierend also auch der Unterricht von Herrn F. Er war damals so Ende vierzig; für uns Elfjährige ein alter Mann. Sportlich erschien er, sehr groß und schlank. Allerdings fehlten ihm die Haare fast gänzlich; lediglich ein graues Kränzlein umgab seine wie poliert wirkende, dynamische Glatze. Seine wachen und kritischen Augen blickten durch eine dunkel umrandete Brille. Herr F. sah sehr mathematisch aus.

 

Besonders, wenn wir Geometrie hatten. Dann hantierte er geschickt an der Wandtafel mit Zirkel, Lineal und Winkelmesser. Aber in Tafelgröße eben. Das rot-weiße Lineal mit Griff sah aus wie eine Straßenabsperrung. Der Zirkel hatte die Länge eines Klappspatens und verlor manchmal das Kreidestück, das er anstatt einer Graphitmine trug. Vor allem, wenn Herr F. damit energisch Kreisbögen schlug, das Lot fällte oder den Mittelpunkt eines Kreises bestimmte. Er kriegte das immer sauber und mit guter Choreografie hin. Das konnte nicht jeder. Nur selten fiel etwas herunter. F.´s Tafelbilder waren immer einwandfrei. 

 

Heute würde man sagen: "Echt gute Performance." Sicher hat Herr F. eine Menge Übung gebraucht, um auf diesem Gebiet so souverän zu agieren. Immerhin vor den Schülern, einem sehr kritischen, unnachsichtigen und teilweise frechen Publikum.

 

Aber auch F. war nicht fehlerfrei. Er neigte ein wenig zum Cholerischsein. Besonders ärgerte er sich über Faule und Dumme. Wobei er versuchte, gerecht zu sein. Weil der Lehrer ja wusste, dass der Faule sehr wohl etwas für seine Fehlleistung konnte. Der Dumme dagegen nicht. Einmal habe ich erlebt, dass Herr F. sehr laut wurde.

 

Erinnere ich mich richtig, so war der Auslöser dafür ein mathematisch sehr unbegabter Schüler. Der sollte eine relativ einfache Aufgabe lösen, konnte es aber nicht. Er guckte nur unglücklich und verzweifelt auf Herrn F. und wäre wahrscheinlich am liebsten im Erdboden versunken. Außerdem zuckte der Bedauernswerte mehrmals mit den Schultern. So, wie man es macht, wenn man sagen will: "Weiss nicht....". Obwohl der Schüler das nicht frech meinte, war es glaube ich diese Bewegung, die Herrn F. endgültig auf die Palme trieb.

 

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Der Lehrer stellte seine Frage und bestimmte einen Schüler, der antworten sollte. Alles wie immer. Dieser auserwählte Lernende wand sich nun und wusste nichts, dachte nach, erzählte etwas Falsches, setzte neu an, schwieg wieder, hob und senkte die Schultern. Atmete zwischendurch schwer.

 

Zu helfen war dem armen Schüler nicht, denn durch die große Aufmerksamkeit, die ihn nun betraf, war jegliches Vorsagen oder ähnliches unmöglich. Nun war es nicht so, dass wir eine Klasse von Mathegenies waren, aber was sich hier gerade ereignete, war unterirdisch. 

 

Das sah auch Herr F. so. Mit seinen langen Beinen lief er in weit ausgreifenden Schritten verzweifelt an der Fensterfront des Klassenzimmers hin und her. Sein weißer Lehrerkittel, den er zum Schutz seines Anzuges gegen Kreidestaub, Tintenkleckse und Schülerhände trug, wehte leicht durch die schnelle Bewegung. Dabei rang er die Hände zur Decke hin, sah zum Fenster hinaus in den Himmel und rief: "Lieber Gott, bitte schicke diesen X. in die Bergakademie Freiberg (s. Fußnote*) und dort soll er sich das ausrechnen lassen." Dann rannte er noch eine Weile hin und her, schimpfte und rollte die Augen. Bis es - klingelte. Zur Pause. Ich glaube, die erlösteste Person des Universums war in diesem Moment der Junge X.

 

Auch mir ist diese Mathestunde in Erinnerung geblieben. Und Herr F.

 

Als geflügeltes Wort blieb von diesem Ereignis diese Antwort übrig:

 

"Dann geh doch in die Bergakademie und lass Dir das ausrechnen."

 

Dieser Satz gewann ironisches Eigenleben unter den Schülern. Damit wurde jede noch so unpassende Frage beantwortet. So ähnlich, wie wenn man heute bei Twitter den Hashtag #DankeMerkel eingibt.

 

Beispiele ?

 

Im Zeichenunterricht weiß einer nicht, wie eine bestimmte Farbe gemischt wird: Und fragt. Antwort: s. o.

 

Auf einem Schulausflug fragt jemand in die Runde, wo denn die Toiletten seien. Antwort: s. oben

 

Irgendwer weiß irgendwas wieder mal nicht: Antwort s. oben

 

Einer trifft beim Fußball das Tor nicht, übertritt beim Weitsprung mehrmals die Absprungmarkierung oder legt einen Fehlstart beim 100 m - Lauf hin. Antwort: Du weißt es eh schon, s. oben.

 

Harmlose Frage, was es denn heute zum Mittagessen gäbe..... Und Du kennst die Antwort.

 

Es war eigentlich sehr witzig. Zumal die meisten Nutzer dieser Standardfloskel mit der Zeit wahre Meisterschaft im Kopfschütteln, Augenrollen und Aufsetzen einer Verzweiflungsmiene erlangten.

 

 

***

 

Jahre vergingen. Zeiten änderten sich und uns.

 

Nie sah ich Herrn F., dachte auch nur wenig an ihn. Manchmal, wenn ich an meinem alten Schulgebäude vorbeiging oder wenn ich meinem kleinen Sohn Geschichten aus meiner Schulzeit erzählte, dann tauchte Herr F. aus der Vergangenheit auf. Mit wehendem weißen Kittel, Klappspatenzirkel und flehend zum Himmel erhobenen Händen. Natürlich. 

 

Dann geschah es. 

 

Seit einiger Zeit habe ich einen anderen Job und damit einen neuen Arbeitsweg. Mit leichten Variationen gehe ich nun diesen Weg jeden Morgen, das Überqueren einer bestimmten Kreuzung ist immer dabei.

 

Eines Tages stand ich nun früh wieder an dieser Straße und wartete, dass die Ampel auf grün umschalten und mir den Weg freigeben würde. Mein Blick schweifte über die mir gegenüber auf der anderen Straßenseite stehenden Leute.

 

Und da sah ich ihn - Herrn F. ! Kleiner und zerbrechlicher war er geworden; sein Rücken hatte sich leicht gekrümmt. Aber des Lehrers Blick war wach und klar - er erwiderte meinen Morgengruß. Vielleicht hat er mich erkannt. Immer mal traf ich ihn an dieser Kreuzung wieder. Immer donnerstags. Da ging er einkaufen, man sah es an den Behältnissen, die er mit sich trug. 

 

Jetzt dachte ich kürzlich: "Schon wieder Donnerstag. Wann habe ich eigentlich Herrn F. zuletzt gesehen ?" Schon eine Weile nicht, fiel mir auf. Zufall ? Vielleicht hat er ja nur seinen Einkaufstag geändert oder ist im Urlaub. Oder er geht in einen anderen Supermarkt und unsere Wege kreuzen sich nicht mehr.

 

Ich hoffe, es geht ihm gut und ich treffe ihn bald wieder. 

 

***

 

Wäre jetzt einer meiner alten Schulkollegen da, so könnte er zu mir sagen:....Na, Du weißt schon.

 

 

(*) Die TU Bergakademie Freiberg ist eine weltberühmte Universität. Vor allem durch Forschung und Lehre im Bereich des Bergbaus und der angrenzenden natur- und ingenieurwissenschafltichen Fächer kennt man ihren Namen über die Landesgrenzen hinaus. Viele Studenten unterschiedlichster Nationalitäten lernen hier und legen ihre Prüfungen ab. Berühmte Persönlichkeiten studierten und forschten hier. Zum Beispiel Lomonossow, Humboldt, Novalis, Ledebur....

 

Von unserer Schule aus hätte man ins Unigelände laufen können, zur Not sogar mit dem großen Zirkel....).

 

 

Nachtrag vom 05. 02. 2020:

 

Habe Herrn F. wieder getroffen. Es geht ihm gut.