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Ein ungewöhnlicher Weihnachtsausflug

Oder: "Tapfere Eltern im Industriegebiet"

1966: Zinnhütte Freiberg / www.commons.wikimedia.org
1966: Zinnhütte Freiberg / www.commons.wikimedia.org

 

Hier siehst Du das Werksgelände der Hütte Freiberg, einmal 1966 und einmal kurz nach der Wende 1990. In diesen Anlagen gewann man Zinn;  später auch Zink. Zum Bergbau- und Hüttenkombinat "Albert Funk" gehörte diese traditionsreiche Betriebsstätte ca. 30 Jahre lang. Heute sieht das Gelände wieder ganz anders aus. Viele von den alten roten Ziegelgebäuden sind verschwunden. Neue Produktionsstätten entstanden. Firmen kamen - und gingen teils auch schon wieder.

 

Um die Geschichte dieses interessanten Industriestandortes in Sachsen soll es heute hier nicht gehen. Stattdessen möchte ich Dir eine kleine Story erzählen, worin er eine Rolle spielt. Pass auf:

 

Blick auf das Freiberger Hüttengelände von oben im Jahr 1990 / Quelle: https://www.freiepresse.de/mittelsachsen/freiberg/20-jahre-fuer-bluehende-huettenstandorte-artikel9056044
Blick auf das Freiberger Hüttengelände von oben im Jahr 1990 / Quelle: https://www.freiepresse.de/mittelsachsen/freiberg/20-jahre-fuer-bluehende-huettenstandorte-artikel9056044

 

Während besonderer Feiertage, so zum Beispiel zu Weihnachten, machten mein Vater, meine Mutter und ich manchmal gemeinsame lange Spaziergänge. Oft fuhren wir mit dem Auto in den Tharandter Wald, in die Gegend um Grillenburg vielleicht oder ins Erzgebirge hoch nach Holzhau. Dann liefen wir dort in schöner Landschaft ein Stück durch Wald und Feld. Meistens bestimmten die Eltern, wo es lang bzw. hin ging.

 

Da beide aber verhältnismäßig demokratische Menschen sind bzw. waren, durfte auch ich manchmal festlegen, wohin wir gehen würden.

 

***

 

Eines Tages, es war erster oder zweiter Weihnachtsfeiertag in einem weißgraunebligen und matschigen Dezember, war es soweit. Das Weihnachtsessen lag hinter uns, man ruhte sich etwas aus und am zeitigen Nachmittag, noch lange vorm Dämmern, gingen wir los. 

 

Ich als "Bestimmer" informierte die staunenden Eltern, dass wir heute kein Auto bräuchten. Ich schätze, ich war so zehn oder elf Jahre alt. Wir gingen los. Erst unterhielten sie sich noch ganz munter miteinander, während wir aus unserem Stadtviertel heraus in ein anderes hinein gingen; ich vorneweg. Je mehr wir uns in östlicher Richtung bewegten, desto irritierter guckten beide und witzelten über meine Streckenauswahl. Denn hier kam man eigentlich nirgendwo hin, wo man hin wollte, wenn man nicht hin musste. Außer mir.

 

Schon als Kind faszinierten mich alte und neue Fabrikgebäude, überirdische verschlungene Rohrleitungen, Schornsteine verschiedenster Bauart und herumstehende Teile unklarer Funktion. Das Wummern, Klopfen, Zischen unsichtbarer Maschinen, das Tuten von Warnsignalen an Kränen und das Scheppern beim Öffnen großer Hallentore. Und deshalb führte meine Weihnachtsspazierstrecke direkt zur Hütte Freiberg, einem großen Werksgelände  vor der Stadt. Hier war ich schon oft alleine oder mit Freundinnen gewesen; kannte viele Wege und besonders geheimnisvolle Ecken.

 

Es war eine Welt für sich.

 

Meine Eltern teilten meine Begeisterung zwar nicht, fragten mich aber ehrlich interessiert, warum es mir hier denn gefalle. Ich erklärte es und sie verstanden es schon ein wenig. Aber meine Begeisterung teilten sie nicht. Eher wunderten sie sich wahrscheinlich über meinen ihrer Meinung nach absonderlichen Geschmack. Doch mit Geduld stapften sie durch die neblige Industrielandschaft, entlang auf matschigen Wegen neben Hallen, Zäunen, Lagerplätzen. Entweder ging es querfeldein oder Straßen entlang unter großen Laternen, die schon bald angingen bei diesem Wetter. Dass meine Eltern bis auf die ein- oder andere ironische Bemerkung davon absahen, zu meckern oder gar umzukehren, das rechne ich ihnen heute noch hoch an.

 

Ich glaube, sie waren dann doch ganz froh, irgendwann wieder in der Stadt auf vertrauenswürdigen Pfaden zu wandeln. Und ich war stolz, ihnen etwas gezeigt zu haben, was sie noch nicht kannten und wohin sie wohl ohne mich auch niemals gegangen wären.....

 

 

Später war ich noch oft in diesem Gelände unterwegs. Nicht mehr zu Hüttenzeiten, aber danach, weit nach 1990 und der Entstehung eines neuen Industriegebiets.

 

Viel hatte sich verändert seit dem längst vergangenen Weihnachtsspaziergang. Seinen Reiz hat das für mich immer noch, obwohl die heutige Bebauung weit weniger spektakulär ist als früher. 

 

Aber trotzdem noch gut.