· 

Mensch und Maulwurf: ein Dialog (10)

Heute: Überlebensstrategien, Schuld und saure Äpfel

 

An diesem sehr schönen Septembertag drehen wir in der Spätsommersonne eine Runde: Mittagspause. Ein Stück übers Feld, einige leuchtend rote Hagebutten in den Hecken sind zu sehen. An unserem geheimen Apfelbaum reifen die Früchte und sehn schon gut aus. Ich probiere einen. Er schmeckt sehr sauer, braucht eben noch etwas Zeit. Ein großer Hase stürzt kurz vor uns aus dem Gebüsch und rennt übers Feld davon.

 

Farbe!
Farbe!

 

Maulwurf (besorgt): "Oh, Mist!!! Den haben wir jetzt erschreckt. Wie der davongerast ist, total panisch."

Yvonne: "Vielleicht hat er gerade ein Mittagsschläfchen gehalten und da kommen wir angetrampelt...."

Maulwurf (guckt arrogant): "ICH bin es schließlich nicht, der hier trampelt...."

Yvonne: "Ja, schon klar. Du bist wieder die schwebende Feenhaftigkeit in Person."

Maulwurf (kichert): "Nur kein Neid."

Yvonne: "Niemals."

Maulwurf (guckt in die Richtung übers Feld, in die der Hase verschwunden ist): "Wenn dem nun was passiert?"

Yvonne: "Dem Hasen?"

Maulwurf (genervt): "Neeeheeee - dem Weihnachtsmann! Natürlich dem Hasen."

Yvonne: "Was soll dem denn passieren?"

Maulwurf (überlegt): "Er könnte vor Schreck ins Auto gelaufen sein. Oder hat nicht auf den Fuchs geachtet. Oder er hat sich ein Bein gebrochen und liegt jetzt irgendwo ganz alleine verletzt da...."

Yvonne (rollt die Augen): "Er ist ein HASE. Der ist von Natur aus wachsam und schnell. Seine einzige Chance zu überleben besteht nämlich darin, immer gut aufzupassen. Denn wenn ihn einmal jemand erwischt hat, dann sieht es übel aus. Das weiß er. Deswegen ist er ein Fluchttier. Du weißt ja: Kämpfen, Weggrennen oder Verstecken bzw. Totstellen - das sind die drei Überlebensstrategien."

Maulwurf (aufmerksam): "Und ich? - Ich bin ein Maulwurf! Worin besteht meine Chance?"

Yvonne: "Im Verstecken. Der Maulwurf überlebt, weil er sich vor Feinden verborgen hält. Deswegen sieht man ihn auch so selten in der Natur. Er lebt unterirdisch und kommt nur vorsichtig heraus. Es gibt schließlich genug Feinde, die ihn fressen oder vertreiben wollen...."

Maulwurf (wütend): "Ja, die gemeinen Gärtner!"

Yvonne: "Was?! Gärtner fressen neuerdings Maulwürfe?"

Maulwurf (schnaubt): "Hrrrmpfhh....Du weißt genau, was ich meine. Wasserschlauch ins Maulwurfsloch stecken, Gift auslegen, mit dem Spaten erschlagen...."

Yvonne: "Ja, das ist schwierig. Obwohl der Maulwurf ja geschützt ist, machen sie es trotzdem. Manche Gärtner sind aber auch maulswurfsfreundlich, die pflanzen dann nur Knoblauch oder eine andere Pflanze, die Ihr nicht mögt. Aber Du bist bei mir jedenfalls sicher."

Maulwurf (versöhnlich): "Ja, na ein Glück.... Was bist Du eigentlich?"

Yvonne: (guckt fragend): "......??"

Maulwurf: "Na, Fluchttier oder..."

Yvonne (unterbricht Pawel): "Menschen wägen ab. Lohnt es sich zu kämpfen, kämpft man. Hat man da keine Chance, haut man ab. Geht auch das nicht mehr, versteckt man sich oder stellt sich tot."

Maulwurf: "Und die Anteile sind da wahrscheinlich bei jedem bissel anders beschaffen? Es gibt ja auch Weicheier und Feiglinge bei Euch Menschen, die niemals kämpfen....(guckt nachdenklich).....Und auch sehr mutige. Aber zurück zum Hasen. Mal angenommen, wir haben ihn jetzt erschreckt. Angenommen, wegen uns ist er entsetzt losgestürmt und wurde von einem Auto überfahren. Sind wir da jetzt schuld?" 

Yvonne (beruhigend): "Hier gibts erst weiter weg wieder eine Straße. Eh' der Hase dort hingerannt ist, da hat er sich wieder beruhigt und weiß, was er tut."

Maulwurf (guckt misstrauisch): "Der beruhigt sich BEIM RENNEN???"

Yvonne: "Klar, er ist ja ein Hase. Schnelles Rennen ist für ihn ein natürlicher Betriebszustand, keine Ausnahmesituation wie für....uns."

Maulwurf: "Stimmt. Aber angenommen mal, es würde ihm nun IRGENDWAS passieren, nur weil wir ihn in dem Moment aufgescheucht haben. Sind wir dann schuld?"

Yvonne: "Nein. Wir haben ihn nicht mit Absicht aufgestöbert und konnten keine Gefahr erkennen. Hätten wir ihn zum Beispiel aus Spaß erschreckt, an einer großen Straße und er wird deshalb überfahren, dann sind wir schuldig. Weil wir es wissen oder wissen könnten, was wir da tun. Aber so ist es ein Zufall. Auf diese Ereignisse, wenn dann eins ins andere greift, haben wir keinen Einfluss."

Maulwurf (besorgt): "Ich will nicht an was Schlimmem schuld sein."

Yvonne: "Dann kannst Du ja darauf achten, was Du machst. Und was das für Konsequenzen für Andere haben kann. Zum Beispiel, wenn man jemandem nicht hilft, der dringend Hilfe braucht. Und man es doch könnte. Sagt man sich dann: Was geht mich das an? Mir doch egal! - Dann lädt man Schuld auf sich. Viele Leute sind so verdammt gleichgültig gegenüber dem Leid Anderer in ihrer Nähe und regen sich trotzdem über jede Scheiße auf."

Maulwurf: "Ja, das stimmt. Das ganze Leben eine einzige Fahrerflucht. Die lassen jemanden am Straßenrand verrecken, weil es ihnen egal ist. Hauptsache, sie machen sich ihre Sonntags-Adidas-Jacke nicht dreckig oder brechen sich ihre ollen Gelnägel nicht ab. Aber wehe, Du genderst ihre Berufsbezeichnung nicht richtig...."

Yvonne: "...oder Du hast die falsche Hautfarbe...."

Maulwurf (grinst): "Stimmt. Ich als Maulwurf hab ja den Vorteil, dass ich schwarz bin. Für Dich dagegen siehts da wohl nicht so gut aus..."

Yvonne: "Hör bloß auf. Lass uns umkehren, die Mittagspause ist gleich vorbei."

Maulwurf (gähnt und streckt sich): "Ok. Ich sage nur: All lives matter."

Yvonne: "Genau."

 

Mittagsrunde
Mittagsrunde
Fit zurück aus der Pause
Fit zurück aus der Pause