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Mehr Punk als Campino

Marcel Reich-Ranicki wäre am 02. Juni 100 Jahre alt geworden

Marcel Reich-Ranicki / www.faz.net
Marcel Reich-Ranicki / www.faz.net

"Wir werden uns nicht einigen und wir sollen und müssen uns nicht einigen. Freunde, wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen." (Marcel Reich Ranicki mit einer "Anleihe" bei Bertold Brecht, 25.4.1997)

 

Mit diesem Zitat möchte ich ein kleines Erinnerungsstück an einen von mir sehr verehrten Mann beginnen.

 

Er heißt Marcel Reich-Ranicki und wäre in diesem Jahr am 02. Juni, also genau vor einer Woche, 100 Jahre alt geworden. Er starb dreiundneunzigjährig im September 2013. Reich-Ranicki hinterlässt ein Lücke, eine leere Stelle in der öffentlichen Debatte um Literatur, Sprache, Journalismus, das Leben selbst. Und er fehlt mir als temperamentvolle "Granate", ein Mensch, dem man gerne zuhört und zusieht. Er konnte die Augen verdrehen, die Mundwinkel verziehen, gestikulieren wie kein Zweiter.

 

Einige der Bücher des Kritikers stehen bei mir im Bücherregal, darunter die "Lobreden", die "Verrisse" und eine von ihm zusammengestellte Gedichtsammlung der schönsten deutschsprachigen Lyrik. Seine Buchkritiken können für Literaturinteressierte heute sehr gut als Lese-Leitfaden dienen. Egal, ob Reich-Ranicki ein Buch lobte oder als "furrrchtbar" bezeichnete. Sehr gewürdigt hat er zum Beispiel das Buch "Mein Herz so weiß" des Spaniers Javier Marias - das gehört auch zu meinen liebsten Romanen. Aber auch das von ihm beschimpfte "Verborgene Wort" Ulla Hahns liebe ich.

 

Reich-Ranickis lebensvolle, energische, kämpferische Art, die manchmal bissige Wortgewandheit und polternde, humorvolle Coolness - nicht zuletzt sein Wissen - haben mich immer beeindruckt und interessiert. Keiner konnte so das R rollen! Natürlich war er eitel. Aber das machte nichts.

 

 www.faz.net: Marcel Reich-Ranicki mit Siegfried Lenz 1999 bei der Verleihung des Goethepreises in der Frankfurter Paulskirche
www.faz.net: Marcel Reich-Ranicki mit Siegfried Lenz 1999 bei der Verleihung des Goethepreises in der Frankfurter Paulskirche

 

Seine Lebensgeschichte ist selbst ein packender Roman.

 

Marceli Reich wurde als Sohn eines jüdischen Fabrikanten und seiner aus Deutschland stammenden Ehefrau 1920 im polnischen Wloclawek geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Dort besuchte er die Schule und konnte 1938 sein Abitur machen. Die Liebe zur deutschsprachigen Literatur und zum Theater nahm hier seinen Anfang.

 

Während des zweiten Weltkrieges wurde er als Jude polnischer Herkunft aus Berlin ins Warschauer Ghetto deportiert. Dort lernte er Teofila, genannt Tosia, kennen. Sie heirateten. Beide entkamen dem Warschauer Ghetto und haben bis Kriegsende bei einem polnischen Bauern mit großem Glück im Versteck überlebt. Ihre Familien hatten dieses Glück nicht. Reichs Eltern und sein Bruder starben in Treblinka und Lublin. Seine Schwester Gerda war ebenfalls aus Polen geflohen und überlebte in Großbritannien.

 

Nach Kriegsende lebten Marcel und Tosia zunächst in Warschau und London, wo Marcel für die polnische Regierung arbeitete und seinen Namen von Marceli Reich in Marcel Reich-Ranicki änderte. 1948 wird dem Paar der Sohn Andrew geboren. Später findet die Familie In Frankfurt am Main ein neues Zuhause. Marcel arbeitet als Journalist, Autor und Publizist. Er wird im Laufe der Zeit zu einer wichtigen Figur des öffentlichen, intellektuellen Lebens in Deutschland. Man nennt ihn nicht umsonst den "Literaturpapst".

 

Vielen Fernsehzuschauern ist noch das "Literarische Quartett" unter Mitwirkung des Wortgewaltigen mit dem rollenden R erinnerlich.

 

***

 

Die beeindruckende Lebensgeschichte nach der Autobiografie "Mein Leben" Marcel Reich-Ranickis wurde, wie ich finde, sehr gut verfilmt. Mit einem fantastischen Matthias Schweighöfer in der Rolle des Marcel. 

 

 

Willst Du etwas mehr zur Lebensgeschichte des großen Kritikers nachlesen, so findest Du das hier:

 

 

Oder eine Dokumentation aus dem Jahr 2004:

 

 

Reich-Ranicki provozierte und polarisierte. Wie sollte es auch anders sein. Bei einem Literaturkritiker, der bekundete, dass ihn die Schreibblockade so manches Schriftstellers eher positiv beeindrucke.... Sicher hat ihn mancher Autor auch gehasst, wenn der "Papst" sein Werk als furchtbar, langweilig, überflüssig und - unlesbar bezeichnete. Unvergessen sind auch einige der prägnanten Sätze des Sprachliebhabers. Paar Zitate habe ich Dir mitgebracht. Mehr davon findest Du am Artikelende mit dem kleinen Button.

 

Ein anderes Thema: Marcel Reich-Ranicki und die Frauen. Seit 1942 mit Tosia verheiratet, gab es auch einige andere wichtige Frauen im Leben des Kritikers. Reich-Ranicki verließ trotzdem seine Frau nie. Durch die schwere Zeit, die beide miteinander durch- und überlebt haben, waren sie untrennbar verbunden. Er selbst sagte dazu:

 

 „Liebe nennen wir jenes extreme Gefühl, das von der Zuneigung zur Leidenschaft führt und von der Leidenschaft zur Abhängigkeit; es versetzt das Individuum in einen rauschhaften Zustand, der zeitweise die Zurechnungsfähigkeit des Betroffenen, Getroffenen einzuschränken vermag: Ein Glück ist es, das Leiden bereitet, und ein Leiden, das den Menschen beglückt.“

 

Der Literaturkritker war es auch, der in 2008 die Annahme des Deutschen Fernsehpreises in der Festgala öffentlich verweigerte. Wegen der Schlechtigkeit des deutschen Fernsehens. Seine "Dankesrede" hab ich Dir hier als Video noch mal mitgebracht. Nach eigener Schilderung hatte der Preisträger erst gar nicht geplant, den Preis abzulehnen. Im Laufe der stundenlang dauernden Festveranstaltung jedoch habe er sich so aufgeregt und geärgert, das er sich spontan zu diesem Schritt entschloss. Cool finde ich die Reaktion von Thomas Gottschalk - wie er versucht, das Ganze irgendwie noch einzufangen....

 

 

"Wissen Sie, wer sympathisch war? Walther von der Vogelweide. Denn von dem wissen wir gar nichts. Und wenn wir über einen Dichter viel wissen, dann ist er arg unsympathisch. Thomas Mann war sehr unsympathisch, Brecht ebenfalls, Heine auch sehr fragwürdig und Goethe, na, keine sympathische Figur. " (Marcel Reich-Ranicki, 3.6.1988)

 

"Wertlose Prosa, langweilig und unlesbar. Keiner hat den Grass dazu aufgefordert, über die Wiedervereinigung zu schreiben. Mir wär viel lieber, wenn Grass über die Liebe zu seiner Frau geschrieben hätte. Interessiert mich viel mehr als seine Ansichten zur Wiedervereinigung." (Marcel Reich-Ranicki, 24.8.1995)

 

"Die Welt" veröffentlichte im Juni 2010 zu Ehren des 90. Geburtstages von Marcel Reich-Ranicki einen Artikel, heute immer noch sehr gut und lesenswert:

"Dieses Literarische Quartett ist keine Veranstaltung im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit. Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden." (Marcel Reich-Ranicki, 18.2.1991)