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Stille

Am Bahnhof in St. Egidien

 

Der Bahnhof in St. Egidien ist in dieser feiertäglichen Mittagsstunde ein stiller Ort. Verlassen liegt er im hellen Sonnenlicht. Von hier aus kann man von drei Bahnsteigen nach Glauchau und Stollberg, nach Chemnitz oder nach Zwickau fahren bzw. aus diesen Richtungen ankommen.

 

Das schöne historische Gebäude aus den Glanzzeiten des Bahnwesens, dem Ende des 19. Jahrhunderts, ist mit Brettern vernagelt, verlassen, beschädigt, beschmiert. Keine fantasievollen Graffitis, nur Gekrakel.

 

Zwei große blühende Holunderbüsche duften ungerührt links und rechts des Haupteingangs, der sicher in die ehemalige kleine Bahnhofshalle führte, mit Fahrkartenschalter und Wartesaal. Bestimmt gabs hier auch eine Bahnhofskneipe früher, wo man schon früh ab sieben Uhr ein Bier bekam. Als Schichtarbeiter vor der Heimfahrt zum Beispiel.

 

Der Bahnhof liegt einsam unterhalb des Industriegeländes "Achat". Dieses Gebiet ist das ehemalige Betriebsgelände der Nickelkütte St. Egidien. Fast vierzig Jahre lang verhüttete man hier das im benachbarten Callenberg geförderte Nickelerz. Im Oktober 1990 erfolgte der letzte Abstich am letzten Ofen. Dann schloss man das Werk, wo zu dieser Zeit meines Wissens nach noch über neunhundert Leute gearbeitet haben. Das Werk wurde später abgerissen.

 

Nur der Riesenschornstein steht noch von der Hütte St. Egidien. Von ihr kenne ich diesen für mich romantisch nach Bergen, Bimmelbahn, verschneiten Wäldern und heißem Punsch in einer Berghütte klingenden Ortsnamen. 

 

Eine Firma, in der ich vor vielen Jahren arbeitete, erbrachte Dienstleistungen für besagte Nickelhütte. "St. Egidien..." sprach ich manchmal leise vor mich hin, wenn wir mit denen was zu tun hatten und fühlte gleichzeitig Geborgenheit und Abenteuerlust. Aber nie war ich wirklich an diesem Ort. Das der nicht meiner Träumerei entsprach, wusste ich ja. Eigentlich.

 

Bis heute.

 

Bahnhof, St. Egidien (www.freiepresse.de)
Bahnhof, St. Egidien (www.freiepresse.de)

 

Von diesem Bahnhof habe ich noch nicht viel Gutes gehört. Er machte Schlagzeilen durch einen Selbstmord in 2013; Kinder, die hier ein Feuer machten; einen Irren, der Steine auf den vorbeifahrenden Zug schmiss, rücksichtslose Randalierer und einen jungen Mann, der im Januar 2020 hier von einem Zug erfasst und getötet wurde. Für ihn stehen Blumen und ein paar Grablichter vorm Bahnsteig 2.

 

2018 vermerkte die "Freie Presse", dass der Bahnhof von St. Egidien wegen der dauernden Randale so gut abgeschirmt, d. h. mit Holzplatten vernagelt wurde, wie es geht. Ebenfalls in 2018 beklagte der Bürgermeister des Ortes den Rückzug eines Investors und das Fehlen finanzieller Mittel für den Bahnhof.

 

 

Ich gehe einmal um den armen Vernagelten und Einsamen herum. Natürlich gibt es hier außer einem Fahrkartenautomaten nichts für die Reisenden. Kein Klo, keinen Kaffee, keine Bockwurst. Man erwartet es auch gar nicht mehr heute. Die sterbenden Bahnhöfe sind Normalität geworden. Dämlichkeit und Zerstörungswut mancher Zeitgenossen sind grenzenlos.

 

Aber nicht alle haben Pech im Leben. Der Freiberger Bahnhof und der Untere Bahnhof in Annaberg-Buchholz zum Beispiel werden saniert und für neue Aufgaben fitgemacht. Nach dem Abschluss der Arbeiten werden sie wieder lebendige, nützliche und schöne Orte sein.

 

***

 

Heute aber sind wir in St. Egidien. Vielleicht finden sich hier auch noch Ideen und Geld zur Erneuerung.

 

 

Im hellen Sonnenlicht fahren wir etwas erleichtert davon.

 

Auch Pawel wirkte an diesem Ort etwas "derangiert".

 

Ich schwöre, es ist die Wahrheit: kurz nachdem ich ihn hier im Bahnhofsfenster fotografierte, da ist er einfach von allein umgefallen. Aufs Gesicht! Und das macht er sonst nie.....