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Vom "Brautloch" und der Braut, die sich was traut

Ein Wahrzeichen von Roßwein

 

Heute will ich Dir etwas zu einer Sage aus der Stadt Roßwein erzählen. Sie handelt von dem kleinen Tunnel, der durch das 1862 gebaute Rathaus geht und direkt vom Markt zur Marienkirche führt. Dieser Durchgang wird vom Markt in Richtung Kirche enger. Er heißt "das Brautloch".

 

 

Was ist zu diesem Ort, dem Brautloch, überliefert ? Fragen wir doch mal Herrn Grässes Sagenschatz:

 

Aus dem Königlich-Sächsischen Sagenschatz (1874) von Johann Friedrich Theodor Grässe 

 

[275]

306) Die Wahrzeichen der Stadt Roßwein.
Curiosa Sax. S. 122.

In der Stadt Roßwein befindet sich unter dem Rathhause ein öffentlicher Durchgang, der auf der einen Seite sehr weit, auf der andern aber ziemlich enge ist. Da nun alle Bräute durch diesen Gang, wenn sie zur Trauung wollen, nach alt hergebrachter Gewohnheit geführt werden, so nennt man diesen Gang das Brautloch, also daß dies den Reisenden zu einem besondern Kennzeichen dient, daß, wer das Brautloch in Roßwein nicht gesehen, auch niemals in Roßwein gewesen ist....

 

Soweit zur Überlieferung.

 

Und was passierte hier so ? Es ist ein Durchgang, ein kleiner Tunnel, ein Weg, ein Unterschlupf. Genutzt von vielen Menschen täglich, einfach so, auf ihren Stadtgängen. Von ein paar Touristen, die sich Markt und Kirche angucken.

 

Und seit einiger Zeit auch von einer Roßweiner Kindergang, die hier ihr Unwesen treibt. Stadtverwaltung, Jugendamt, Polizei und der Pfarrer der Marienkirche beschäftigen sich damit. Die Kinder hatten Passanten belästigt, die Wände des Durchgangs und des öffentlichen WCs beschmiert, dort auch Seifenspender herausgerissen und Glasflaschen zerbrochen. 

 

***

 

Aber die Hauptpersonen dieses Ortes sind nicht die kleinen Randalierer, sondern - die Bräute.

 

Unzählige von ihnen durchschritten dieses Brautloch mit dem Portal aus dem 16. Jahrhundert. Das Rathaus selbst wurde erst 1862 gebaut.. Ich weiß gar nicht, wie viele Frauen das gewesen sein könnten in den ca.157 Jahren, in denen es diesen Durchgang gibt und hier geheiratet wird.

 

Rechnet man mal mit knapp einer Hochzeit pro Woche, so sind das ca. 50 Bräute pro Jahr. Das sind dann, wenn man noch schlechte Zeiten und Krieg berücksichtigt, mindestens 7000. Jede Einzelne davon hatte ihr Schicksal, als sie durch diesen Durchgang ging. Da war sicher alles dabei, was unser Leben so bereit hält. 

 

Liefen sie da heiter und glücklich hindurch oder waren sie voller Abscheu und Angst ? Liebten sie den Mann, den sie heirateten, oder nicht ? Liebte er sie ? Freuten sie sich auf ein tolles Fest, ein glückliches gemeinsames Leben, auf Kinder, ein schönes Zuhause ? Vielleicht auf ein besseres Leben durch eine finanziell günstige Verbindung ? Gab so manche dafür ihre wahre Liebe auf oder musste es sogar ? Gingen sie jungfräulich und ängstlich zum Altar oder wussten sie schon, was auf sie zukam ? Hatten sie vielleicht selber intrigiert, damit sie nun geheiratet werden mussten ? Oder waren sie Opfer, die aus gesellschaftlichen Gründen gebracht werden mussten ? Waren sie jung oder älter, das erste Mal auf dem Weg zum Traualtar oder hatten sie das alles schon mal erlebt ?

 

Bestimmt ist auch mal eine Braut abgehaun, gleich hinter dem Brautloch. Ich sehe es vor mir:

 

***

 

Die Braut geht am Arm des Bräutigams oder des Vaters, je nach den Gebräuchen der jeweiligen Zeit. Die Hochzeitsgesellschaft, wenigstens einige nahe Verwandte, sind um sie herum. Alle laufen langsam durch das Brautloch. Sie, die Braut, guckt nach unten auf ihre Füße in den zierlichen weißen Schuhen.

 

"Die sind sehr schön." denkt sie. "Warum hab ich sonst nie weiße Schuhe an?" denkt sie. "Der Brautstrauß stachelt." denkt sie.

 

Das ebenfalls weiße Kleid leuchtet sie an. Der Rock schwingt schön beim Gehen, so muss sich ein gutes Kleid anfühlen. Sie selbst fühlt sich, als ob sie sich selber beobachtet, wie sie da durch diesen Durchgang geht. In Brautkleid und weißen Schuhen eben. Unglaublich. "Bin das wirklich ich?" Sie fühlt eigentlich nichts, nur ein großes Erstaunen über diese, ihre Situation. Jetzt. Hier. Wie konnte das so weit kommen ? Die Braut tritt aus dem dunklen Durchgang ins Helle. Die Sonne scheint nicht. Der Himmel ist bedeckt. Die Kirche steht da, wo sie immer steht. Das wird auch morgen noch so sein, und in einem Jahr und in zehn Jahren und zur Silberhochzeit. Ihr Herz macht einen angstvollen Sprung. Und da weiß sie, dass sie das nicht will. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht so. Es gibt nur noch eins:

 

Die Röcke gerafft und dann losgerannt, einfach nach links weg und in die Stadt hinein. Nur nach vorn gucken, nicht rechts, nicht links, so schnell rennen, wie es geht. An ihrer alten Schule vorbei. Und nur nichts hören oder umdrehen. Ihr Atem geht schnell. "In den Schuhen kann man doch ganz gut rennen." denkt sie noch so.

 

Dann hat sie es geschafft, sich zu Hause schnell umzuziehen, bevor man sie hier findet und ist dann mit dem nächsten Zug auf Nimmerwiedersehn verschwunden. Oder mit Bus 750.  Vielleicht bis nach Amerika. Oder wenigstens nach Leipzig.

 

Ob sie es jemals bereut hat ? Ich weiß es nicht.

 

Die Fassungslosigkeit der Hochzeitsgesellschaft kann man sich denken. Und sicher ist wieder einer dabei gewesen, der das hat alles schon längst kommen sehn. Denn den gibt es eigentlich immer.

 

***

 

Viele Szenarien kann man sich vorstellen. Man heiratet nicht nur der glücklichen Liebe wegen. Heute nicht und früher erst recht nicht. Aber heute zum Glück öfter. Ich wünsche den Mädchen und Frauen jetzt noch, es möge ihnen gut gegangen sein und gut gehen. Und bestimmt sind auch viele dieser Bräute richtig glücklich gewesen oder sind es, gerade jetzt. Denn so soll es ja sein. Vielleicht ist am kommenden Wochenende wieder eine Hochzeit in Roßwein.

 

Und da geht wieder die Eine durch das Brautloch...

 

 

Ich selber kann da gar nicht mitreden. Denn ich habe noch nie geheiratet. Dazu kann ich Dir hier auch nix weiter verraten, nur einen Spruch und ein Bild sagen Dir etwas, pass auf:

 

Alle Brautfotos sind von www.pixabay.com.
Alle Brautfotos sind von www.pixabay.com.

 

"Alle Kinder heiraten, nur nicht Yvonne. Denn die lief davon...."

 

***

 

Der Maulwurf ist damit wohl nicht ganz einverstanden, denn er macht ein frommes und etwas tadelndes Gesicht. "Komm schon, " sage ich zu ihm, "ist doch immer noch besser als "Alle Kinder angeln Haie, nur nicht Schröder, der spielt Köder."

 

Darüber kann der Maulwurf jetzt überhaupt nicht lachen, sondern lässt mich stehn und verlässt den Raum. Er zweifelt offensichtlich gerade an meiner geistigen Gesundheit. Wahrscheinlich holt er sich nen Kaffee.

 

Gute Idee.

 

Und der Vergleich war auch blöd, denke ich. Denn was haben schon Haiangeln und Köder mit dem Heiraten zu tun....

 

***

 

 

Auch ein Rossi
Auch ein Rossi