· 

Leute unterwegs / Gerade am Ende ?

Mann am Auto

www.pixabay.com / chefchen
www.pixabay.com / chefchen

Als ich gestern mit dem Zug fahre, kommen wir durch einen kleinen Bahnhof.

 

Der Zug hält, ein paar Leute steigen aus und ein. Dann fahren wir weiter, langsam aus dem Bahnhof heraus. Gleich dahinter führt das Gleis unter einer hohen Betonbrücke hindurch. Fest und sicher sind ihre mächtigen Pfeiler im Boden verankert. Ein guter Anblick. Ein Gleis neben dem unseren endet hier unter der Brücke. Ein Prellbock steht am Ende. Ein einsamer Platz.

 

Da sehe ich ihn. Den Mann am Auto.

 

Er ist auf dem schlammigen Weg, der zum Gleisende führt, bis hier her gefahren, unter die Brücke. Er sieht nicht aus, als ob er mit dem Bahnhof oder den Gleisen etwas zu tun hat. Trotzdem muss er sich hier auskennen, denn sonst fährt man diesen Weg nicht entlang, der ins Nichts führt, unter die große Brücke. Fremd steht er nun dort, an sein Auto gelehnt. Der Mann raucht. Seine Haltung ist gebeugt und müde. 

 

Warum er wohl hier steht, mittwochs früh um zehn ? So unbeteiligt und alleine. Wahrscheinlich keiner, der auf einer langen Fahrt mal eben eine Pause macht. Dafür ist die Stelle zu abgelegen, eigentlich. Er ist mit Absicht hierher gefahren, weil er den Platz kennt und weiß, hier würde er seine Ruhe haben. Denn er will allein sein. Vielleicht kommt er ab und zu hierher um nachzudenken. Vielleicht ist das sein Lieblingsplatz. Aber um diese Zeit ?

 

Es könnte sein, dass ihm etwas Außergewöhnliches passiert ist. Etwas mehr oder weniger Schlechtes. Etwas von der Art, womit man erst mal alleine fertig werden muss, ehe man irgend jemandem begegnet. Ehe man sich der Welt und ihren Fragen stellt. Danach.

 

Wir kennen das alle.

 

Da wir sehr langsam aus dem Bahnhof fahren, kann ich in aller Ruhe sein Gesicht sehen. Dieser Mann ist nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Sein Gesicht markant und faltig, kurzes dunkles Haar, ein Schatten von Grau. Trotzdem er müde aussieht, wirkt er konzentriert. So, als ob er sich etwas Wichtiges überlegt. Planvoll - ja, so sieht er aus, das ist das richtige Wort. Nicht chaotisch, nicht aufgelöst.

 

Was ihn wohl da beschäftigt, an diesem spätsommerlichen und sonnigen Septembermorgen ?

 

***

Vielleicht hat er Sorgen mit seinem Kind, das schon erwachsen ist und jetzt ein Leben führt, dass er bisher nicht akzeptieren kann. Oftmals hat er versucht, einzugreifen, zu raten, zu helfen - vergebens. Gerade wieder hat er vorübergehend aufgegeben, nach einem unerfreulichen Gespräch mit der so sturen Tochter. Seine Frau sagt, sie kommt nach ihm.

 

Oder er hat einen schwierigen Job. Die Probleme sind immer dieselben, manchmal häufen sie sich und drohen, ihn unter sich zu begraben. Ein Gefühl, wie wenn einem ein dickes Seil, das man doch ganz fest halten soll, schmerzhaft durch die Hand zischt. Und man rein gar nichts machen kann. Manchmal träumt er nachts davon und atmet schwer, wenn er aufwacht.

 

Es könnte auch sein, seine Frau hat ihn gerade verlassen und ist mit dem Postboten auf die Bahamas abgehauen. Oder er selber kommt gerade von Doreen, seiner bisher heimlichen Freundin. Und hat ihr zum xten mal versprochen, endlich mit seiner Frau über die Scheidung zu sprechen. Heute hat Doreen gesagt: "Rede jetzt mit Deiner Frau oder lass es. Aber dann ist Schluss." Und nun ?

 

Möglicherweise war er gerade bei der Bank, die ihm den so dringend benötigten Kredit nicht geben will. Wofür auch immer, warum auch immer.

 

Oder der Hund ist weg.

 

Ich hoffe, er hat keine schlimme Diagnose vom Arzt für sich oder einen nahen Angehörigen bekommen. 

 

Was auch gut sein kann: er kommt gerade von der Nachtschicht und hat einen anstrengenden Dienst hinter sich. Bevor er nun zu Hause die häuslichen Aufgaben erledigt, die vor dem Schlafengehen noch anliegen, hat er sich hierher verzogen, um ganz in Ruhe einfach nur eine zu rauchen, auch, um beim Fahren nicht einzuschlafen. Verdammt noch mal.

 

Der Mann schaut auf den langsam vorbeifahrenden Zug, sieht eine Frau hinter der Fensterscheibe.  Und denkt so für sich: "Was glotzt die da so ? Kennen wir uns ? Keine Ahnung, na, egal...."

 

Und dann tritt er seine Kippe aus, steigt ins Auto und fährt weg.

 

***

 

 

Der Maulwurf macht sich auch so seine Gedanken über alles. Zum Beispiel fragt er sich, ob manchmal jemand über uns sich Geschichten ausdenkt, wenn derjenige uns irgendwo sieht. Ich sage ihm, dass das auf jeden Fall so ist, nur wissen wir es nicht und werden es auch kaum rauskriegen.

 

Denn es gibt immer Leute, die sich was ausdenken, denen was einfällt. Vor allem zu komischen Frauen mit Maulwürfen. Zum Glück. Sonst wäre es nicht zum Aushalten.