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Alte Wand

Wand im Wandel der Zeit (aufwändige Gedanken...)

 

Bild 1: Innenwand Abbruchhaus, vielfach übermalt und beklebt

 

 

An einem Abbruchhaus, an dem ich fast jeden Tag vorbei gehe, ist ein Stück Innenwand freigelegt worden.

 

Diese Wand bildete mal ein Zimmer im Erdgeschoss mit Blick zur Straße hin. Ich schätze, das Haus wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, so um 1880. Ein Mehrfamilien-Wohnhaus für keine reichen Leute. Mit Plumpsklo auf halber Treppe, Teppichklopfstange und Karnickelstall im Hof. Man sieht, dass diese Wand im Laufe der Jahre vielfach überklebt und überstrichen wurde. Das alles haben die Menschen, die das Zimmer bewohnt haben, selber gemacht oder veranlasst. Sie wollten das Zimmer schön machen.

 

In dem Zimmer wurde gegessen, getrunken, geschlafen, gearbeitet, sich gewaschen, Angst gehabt, gefeiert, geschrieben, gewartet, geliebt, geweint, geputzt, sich begrüßt, getröstet, gemalert, gestreichelt, tapeziert, gekocht, ein Kind zur Welt gebracht, gebastelt, gemalt, gelernt, krank da gelegen, ein Kind auf den Topf gesetzt, sich Sorgen gemacht, Weihnachtsbaum geschmückt, getrauert, Kerzen angezündet, Ofen geheizt, Mut gefasst, Fenster aufgerissen, sich schön gemacht, einander angeschrien, sich gefreut, sich gestritten, verzweifelt, sich wieder vertragen, nachgedacht, Plan geschmiedet, sich verabschiedet, gesammelt, versteckt, sortiert, verstanden, nicht verstanden, gesungen - gelebt und gestorben.

 

Man kann die einzelnen Muster und Farben nicht mehr richtig erkennen, aber erahnen.

 

Im Laufe seines Lebens war das Zimmer zum Beispiel bei seiner Fertigstellung vielleicht nur weiß gestrichen. Es musste doch noch "trockengewohnt" werden. Da war es eine Küche, wo die Mutter mittags aus dem Fenster guckte und auf ihr Kind wartete, das zum Essen aus der Schule kam. In der Küche stand auch ein Sofa, darüber hing eine Landschaft mit Hirsch. Auf dem Sofa schlief nachts der ältere Sohn, weil er kein eigenes Zimmer hatte. In dieser Küche wurde das Essen gekocht, Kuchen gebacken und Pflaumen und Stachelbeeren eingeweckt. Hier machten die Kinder Hausaufgaben, die Mutter führte ihr Haushaltsbuch, stopfte Socken und las ihren Liebesroman.  Der Vater schrieb manchmal einen Brief und reparierte etwas, das kaputt war. Manchmal war es auch umgedreht. Die Mutter reparierte und der Vater las Liebesroman. Oder es wurde etwas repariert, von wem auch immer, und war danach kaputt.

 

Später irgendwann

war der Raum ein Wohnzimmer und hatte eine feine blau geblümte Tapete. Exotische Zimmerpflanzen wurden modern und standen im Fenster. Die Wohnzimmerlampe war eine Glaskugel mit Kordelfransen. Es gab bequeme plüschige Polstermöbel. Und ein Kissen mit der aufgestickten Aufschrift: "Nur ein Viertelstündchen". Viele Jahre gehörte dieses Wohnzimmer einem Ehepaar und deren Kindern;  zuletzt nur noch der alten Frau allein.

 

In den 1930er Jahren war es immer noch Wohnzimmer und erhielt ein Radio. Und einen neuen Anstrich, nämlich einen mit Farbwalze, die ein Muster auf den einfarbigen Untergrund druckt. Dafür wurde die blaugeblümte, verblasste, altmodische Vorgängerin einfach überstrichen. Neue Tapete war zu teuer.

 

Haus und Zimmer überstanden beide Weltkriege offensichtlich unbeschadet. Von den Bewohnern weiß ich das nicht.

 

In den 1950er Jahren wurde unser Zimmer dann blau gestrichen und mit Nierentisch, Schrankwand mit Beinen,  einem Kokosläufer und einem Plattenspieler schick ausgestattet. Wieder als Wohnzimmer. An der Wand hingen Bilder aus gepressten Stroh unter Glas, Palmen und Boote auf schwarzem Hintergrund. Bald zog ein Fernseher ein. Manchmal gab es eine "Party" mit Toast Hawai oder einem Hackepeterigel und Bowle. Die Kinder schrien im Hof rum. Die Nachbarn staunten. Die Bewohner waren glücklich in ihrem Zimmer.

 

Auch der Weihnachtsbaum war jedes Jahr prächtig und stand in derselben Ecke rechts von den beiden Fenstern. Irgendwann trug er Kugeln aus Lauscha, solche halb aufgeschnittenen wie unten im Bild. Fantastisch.

 

In den 1970ern war es ein Kinderzimmer mit groß gemusterter rosabunter Tapete. Es klebten Plakate an der Wand, z. B. von ABBA und den Smokies, später Kiss. Manchmal gab es Streit mit den Eltern, ob man denn die feine Tapete so versauen müsse und was das denn überhaupt für Hottentottenmusik sei. Im Ernstfall konnte man selber oder ein heimlicher Besucher durchs Fester abhaun. War ja ganz unten.

 

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Danach hat es noch einige Umgestaltungen erfahren, unser Zimmer. Jetzt sieht es so aus, als ob es abgerissen werden soll, aber genau kann ich das noch nicht sagen. Vielleicht wird das Haus ja saniert. Dann ist es wieder neu.

 

Und das Zimmer eventuell wieder eine weiße Küche. 

 

 So ist das Leben.

 

 

Wandgestaltung, die mir gefällt. www.pixabay / Free-Photos
Wandgestaltung, die mir gefällt. www.pixabay / Free-Photos

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Der Maulwurf rennt geschäftig hin und her. Er sammelt: Knetmasse, eine alte Rolle vom Skateboard, eine Stricknadel, den neuen Farbkasten. Ich vermute, er will sich eine Farbrolle basteln.

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