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Frau Kümmel

"Der Albtraum" Fotografie von Björn Martensen ("VIEW")

Ein Albtraum

Ich habe mir vorgenommen, mich heute an die Aufarbeitung einer Altlast zu machen. Kurz und schmerzlos. Das ist leichter gesagt als getan.

 

Denn:

 

Es geht um FRAU KÜMMEL.

 

Wenn Du noch nie etwas von ihr gehört hast, solltest Du froh sein. Leider wird sich das gleich ändern, falls Du weiterliest. Falls. Überlege es Dir....

 

Du hast Dich entschieden ? Also gut.

 

Immer, wenn ich ein Problem lösen will, versuche ich, mich ihm von der pragmatischen Seite zu nähern. Also sachlich und emotionslos. Wie gesagt, ich versuche es. Es gelingt oft. Aber bei FRAU KÜMMEL wird es schwer.

 

Denn bei FRAU KÜMMEL geht es nicht um irgendwen. Um mich vorsichtig heranzutasten, habe ich als erstes diesen Namen gegoogelt. Ich finde mehrere sicher sehr unbescholtene Damen, die alle so heißen. Sie sind dann blond oder dunkel, älter oder jünger und wirken alle relativ ungefährlich, attraktiv und entspannt.

 

Ich sehe zum Beispiel Frau Andrea Kümmel, die Ergotherapeutin. Und Frau Sabine Kümmel, die Heilpraktikerin. Oder die Ärztin Frau Hoffmann-Kümmel aus Ottweiler. Sicher alles keine Hexen. Obwohl, Ottweiler......?! Sorry.

 

Aber das täuscht alles nur.

 

Auch im Alltag, also am hellen Tag, gibt es FRAU KÜMMEL. Vor ca. einem Jahr saß ich im vollen Wartezimmer einer Arztpraxis. Diese Gelegenheit nutze ich meistens für ein kleines Erholungsschläfchen zwischendurch. Das heißt, ich schlafe, aufrecht sitzend, halb ein. Ich höre aber noch, was um mich herum vorgeht.

 

Ich war also schon eine Weile eingeschlummert, da rief die unbeteiligte Stimme der Arzthelferin: "FRAU KÜMMEL". Ich erwachte sofort, riss erschrocken die Augen auf und fiel dabei fast vom Stuhl. Hellwach sah ich noch, wie eine dunkelblonde, sportliche Frau aufstand und kurz darauf das Behandlungszimmer betrat. Mein Puls ging wieder auf normal zurück und ich beruhigte mich. DAS war sie wieder nicht. Wieder nur so eine ungefährliche Kümmelin.

 

Aber ich kenne die wirkliche FRAU KÜMMEL. Eine Hexe. Eine Qual. Ein Albtraum. Das von Herrn Martensen gemachte Foto erscheint mir nicht übertrieben.

 

Angefangen hat alles, als ich noch klein war.

 

Wenn ich abends einschlafen und Ruhe geben sollte, beruhigte mich meine Oma liebevoll. Wenn ihr das aber alles zu lange dauerte und zu nervig wurde (und nebenan saß der Opa vorm Fernseher und der Krimi fing gleich an), dann sprach sie zu mir: "Weißt Du denn nicht, dass zu bösen Kindern, die abends nicht einschlafen wollen, FRAU KÜMMEL kommt und sie holt ?"

 

Daraufhin war ich vorsichtshalber still, denn man wusste ja nie..... Aber einschlafen konnte ich auch nicht. Und stellte mir vor, wie FRAU KÜMMEL so ist. Nicht gut jedenfalls.

 

Eines Tages, als ich wieder keine Ruhe gab, sagte Oma  ihr Sprüchlein mit FRAU KÜMMEL auf. Ich fand diese KÜMMELhexe zwar immer noch gruselig, aber hatte mich auch schon ein wenig an sie gewöhnt. Vielleicht zweifelte ich gar an ihrer Existenz.

 

Dann passierte es.

 

Oma verließ das Schlafzimmer und sagte nur cool: "Du wirst schon sehen, was Du davon hast." Ich versteckte mich unter der Bettdecke und schaute nur ein klein wenig heraus. Gerade nur soviel, dass ich die Schlafzimmertür im Blick hatte. Das war eine große weiße Holztür mit einer Milchglasscheibe im oberen Drittel. Dadurch konnte man sehen, wenn im Wohnungsflur vor dem Schlafzimmer Licht war. Das war immer schön. Auch wenn jemand an der Tür vorbei ging, war es beruhigend, Oma oder Opa oder die Eltern am Umriss der jeweiligen Gestalt zu erkennen.

 

Jetzt aber passierte nichts. Oma war verschwunden. Das helle Viereck der Milchglasscheibe hob sich aus der Dunkelheit ab. Leer.  Und dann glaubte ich es ja nicht und war starr vor Angst. Denn auf der Glasscheibe zeichnete sich eine bucklige Gestalt ab, die irgendetwas auf dem Rücken trug. Sie drohte mit dem Hexenfinger und sprach mit hohler Stimme: "ICH bin die FRAU KÜMMEL. Und wenn Du nicht sofort artig bist, werde ich Dich holen." Jetzt war klar, das sie auf dem Rücken einen leeren Sack trug. In den wollte sie ihre schreckensstarre Beute gleich stecken, heute also MICH !!! 

 

Ich hatte große Angst und lag bewegungs- und lautlos im Bett. Irgendwann schlief ich ein.

 

Am nächsten Morgen erzählte ich das meiner Familie. Sie wollten es nicht glauben und haben mich ausgelacht. Andererseits würde ich ja nun selbst sehen, was ich von der abendlichen Operei hätte.

 

In den nächsten Jahren hatte ich Angst vor einer Hexe namens FRAU KÜMMEL. Manchmal träumte ich von ihr.  Nur langsam und mit zunehmendem Alter gingen sie weg, Hexe und Angst. Aber ein kleiner Rest blieb.

 

Bei Diskussionen mit Mutter und Oma haben beide jahrelang heftig bestritten, jemals etwas mit FRAU KÜMMEL zu tun gehabt zu haben. Ja - gut, erwähnt hätte man sie sicherlich ab und an. Aber irgendwelche Schauspielereien hinter bzw. vor der schlafzimmerlichen Milchglasscheibe haben beide niemals zugegeben.

 

So sagt mir mein pragmatischer Verstand, bleiben nun drei Möglichkeiten:

 

Erstens:

1ch habe mir das alles nur eingebildet, weil ich mal was von Frau Kümmel gehört habe ("Das Kind hat ja so große Fantasie...).

 

Zweitens:

Mutter und Oma haben mir in diesem Fall ausnahmsweise nicht die Wahrheit gesagt.

 

Drittens:

Es gibt sie wirklich, die Hexe FRAU KÜMMEL.

 

Da nach Abwägung aller Tatsachen und Vermutungen keine Möglichkeit auszuschließen und keine als einzige Wahrheit anzunehmen ist, tappe ich weiter im Dunkeln.

 

Und begegne ihr dort hoffentlich nicht, der Hexe FRAU KÜMMEL.

 

Der Maulwurf hat, während ich schrieb, eine kleine Steinschleuder vorbereitet und übt damit. Er ist sehr mutig und sagt mir immer, dass ich das auch sein muss. Denn: WIR SIND KEINE OPFER. 

 

Auch nicht von FRAU KÜMMEL.