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Jedes Publikum kriegt die Vorstellung, die es verdient

 

Als ich kürzlich in der Dresdner Neustadt unterwegs war, fand ich diese bemalte Mauer.

 

Das grüne Monster gefiel mir gleich,  der Spruch auch.

 

Es lohnt sich auch, darüber mal kurz nachzudenken.

 

 "Jedes Publikum kriegt die Vorstellung, die es verdient."

 

 

Heißt soviel wie: "Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters". Aber auch: "Was dem einen sin Uhl, is dem andern sin Nachtigall.." Oder ?

 

Machen wir mal ein Gedankenspiel:

 

Wir sind das Publikum, das Leben ist die Vorstellung, sozusagen interaktiv mit Zuschauerbeteiligung.

 

Möglichkeit 0 (existiert nur theoretisch)

Wir sind gar nicht erst ins Theater gegangen oder gekommen, weil wir nicht konnten oder uns jemand oder etwas daran gehindert hat. Diese traurige Variante scheidet hier aus. Weil wir dann ja gar nicht da wären, im Leben.

Wir sind nicht da.

 

Möglichkeit 1:

Wir sitzen auf unseren Theaterplätzen, sind schlecht gelaunt. Wir hatten gar keine Lust, hierher zu gehen und diese Vorstellung zu sehen. Eigentlich finden wir das alles blöd. Bei dem Wort "interaktiv" kriegen wir Pickel und wollen keinesfalls mitwirken. Wir sitzen unfroh da und wären lieber woanders. Wo genau, wissen wir auch nicht. Wir sind sauer auf den, der uns hierher geschleppt hat. Wir sind frustriert und sehen auch so aus.

ABER: Wir sind da.

 

Möglichkeit 2:

Wir sind nach einem anstrengenden Tag nach Hause gekommen und wollten eigentlich nur noch aufs Sofa. Aber wir sind auch neugierig und lebendig. Deshalb haben wir uns zurecht gemacht und sind hergekommen. Jetzt sitzen wir vor dem geschlossenen Vorhang und warten schon gespannt, dass es los geht. Der interaktive Aspekt ist uns bewusst und ängstigt uns etwas. Andererseits finden wir diese Möglichkeit der Beteiligung auch reizvoll. Wir sind gespannt.

UND: Wir sind da.

 

Möglichkeit 3:

Wir haben heute frei oder einen erfolgreichen Tag hinter uns.  Wir sind gut gelaunt und unternehmungslustig. Abends steht ein spontaner Theaterbesuch an, weil wir beim Herumschlendern in der Stadt zum Eisessen ein Plakat entdeckt haben. Das kündigt uns diese Vorstellung an und lockt uns aus dem Haus. Oder wir haben dieses Stück schon lange mal sehen wollen. Heute ist es soweit. Wir haben uns was Tolles zum Anziehen aus dem Schrank geholt und uns zum Schönmachen Zeit genommen. Wir freuen uns.

UND: Wir sind da.

 

 

DIE VORSTELLUNG BEGINNT.

 

Es läuft irgendein Stück zu irgendeiner Zeit. Es geht um Liebe und Tod, Rache und Vergebung, Geld und Gier, Freundschaft und Verrat, Macht und Ohnmacht. Kurz, um das Leben selbst. Die Schauspieler sind gut. Sie geben sich Mühe, die Zuschauer in das Spiel einzubeziehen und fordern sie immer wieder dazu auf. Manchmal ist es auch so, dass ein Schauspieler ins Publikum wechselt und sich dort einen Platz sucht.

 

 

Vorhang auf für Dein Leben !
Vorhang auf für Dein Leben !

 

Nun schauen wir mal als Beobachter durch das Loch im Vorhang und sehen uns unsere Zuschauer an.

 

Um sie einordnen zu können, haben wir die Zuschauer nur für uns kenntlich gemacht. Und zwar mit einer farbigen Weste, die wirklich nur der Beobachter sieht. Die Weste kann die Farbe von selbst wechseln, wenn sich die Einstellung des Zuschauers ändert, so wie ein Stimmungslippenstift in etwa. Zum Beispiel von fröhlich nach frustriert oder andersrum. Was ja vorkommen kann. Der Zuschauer selbst weiß davon natürlich  nichts.

 

Die Westenfarben wurden festgelegt (völlig unpolitisch):

 

weiß: Gruppe 1: die Frustrierten

grün: Gruppe 2: die Gespannten

rot: Gruppe 3: die Fröhlichen

 

(Gelbe Westen habe ich mal aus aktuellem Anlass nicht verteilt....)

 

Wie reagiert nun unser Publikum ?

 

Die weißen Westen sitzen gelangweilt, schlecht gelaunt und lustlos  herum. Einige verlassen das Theater vorzeitig, aber zum Glück nur wenige. Mitmachen will hier keiner so richtig. Dafür wird andauernd gemeckert, gejammert, gestört, geknistert, geknabbert und herumgelaufen. Vorwurfsvoll werden die Personen oder Umstände benannt, die daran schuld sind, dass man jetzt hier sitzen müsse. Hier, wo sowieso alles keinen Zweck hat. Wo "die da oben" immer nur versagen. Wo man selber natürlich nie was dafür kann, wenn was nicht funktioniert. Einige weiße Westen wechseln ihre Farbe von weiß nach grün oder rot. Es besteht also auch hier grundsätzlich Hoffnung.

 

Die grünen Westen verfolgen aufmerksam das Geschehen auf der Bühne. Ab und zu steht einer auf und geht auf die Bühne, entweder, wenn er von einem Schauspieler dazu aufgefordert wird oder auch von sich aus. Die Zuschauer sprechen manchmal ganz leise miteinander und bestärken sich, hier mitzumachen. Die meisten haben sich mit ihrer Abendgarderobe Mühe gegeben. Es wird angefeuert, gelacht und auch mal geschimpft.  Zuschauer, die von der Bühne zurückkommen, werden gelobt und bewundert. Gestört wird von den Grünen hier fast gar nicht. Einige wechseln ihre Farbe nach rot. Ganz wenige erblassen zu weiß. Manchmal muss einer dringend weg. Er geht dann, aber nicht gerne.

 

Die roten Westen sind begeisterte Zuschauer. Sie verfolgen die Handlung, spielen engagiert mit - auch ohne Aufforderung. Sie haben meistens das Gefühl für ihren passenden Einsatz. Sie sind alle fantasievoll und festlich gekleidet. Damit erweisen sie dem Theater ihren Respekt und tragen gleichzeitig zu einem schönen Gesamtbild bei. Kommt es doch mal zu einem "Fehltritt", stört es die Gesamtvorstellung nicht. Die Schauspieler sind glücklich. Manchmal verlässt auch von diesen Rotwesten einer das Theater, aber dann wirklich nur aus sehr ernstem Anlass. Ebenso gibt es Farbwechsel zu grün oder weiß. Letzteres ist ganz selten. Zu grün wird meist nur vorübergehend gewechselt, wenn man einen Fehler gemacht hat und ein wenig Erholung braucht. Die meisten sind kurzfristig wieder hergestellt und vorne mit dabei. Manche haben auch eine längere weiße Phase, kommen aber vor Vorstellungsende meistens wieder in die rote Form. Dabei werden sie von der grünen Gruppe bewundert und von den Weißen heimlich beneidet und offen angefeindet. Aber das halten sie aus.

 

In der Theaterpause und am Ende des Stückes werden die verschiedenen Eindrücke diskutiert. Wie hat es Euch denn gefallen ?

 

Trotzdem alle drei Zuschauergruppen in derselben Vorstellung waren, scheint es, als hätte jede Gruppe ihr eigenes Stück erlebt:.

 

Die Weißen lamentieren, dass man es ja gleich gewusst habe und lieber zu Hause geblieben wäre. Das die Schauspieler schlecht, der vorgetragene Inhalt unverständlich, der Theatersessel unbequem und die Klimatisierung sowieso unmöglich seien. Dass es eine Zumutung ist, hier eine Mitwirkung ihrerseits auch nur zu erwarten. Dass sie mit ihren Knabbereien und Getränken ihre Plätze vermüllt haben, stört sie nicht.

FAZIT: SCHLECHTER ABEND

 

Die Grünen hatten in der Mehrheit einen schönen Abend. Sie haben gespannt das Geschehen verfolgt und sich gefreut, wenns gut lief. Und mitgebangt, wenn nicht. Manch einer sagt sich, dass er mehr hätte mitspielen und aktiver auf das Geschehen einwirken hätte sollen. Oder dass er sich gern ein tolleres Gewand angezogen hätte und auch mal gemeckert haben sollte, wenn ihm was nicht gepasst hat. Er hat sich aber nicht getraut. Naja, was solls. Eventuell gibt es bald mehr Theater. 

FAZIT: GUTER ABEND

 

Die Roten sind begeistert und schon in der Vorstellungspause und später zum Ende des Geschehens auf der Bühne der Meinung, dass es ein fantastischer Abend mit guten Schauspielern und angenehmem Mitpublikum war. Interaktion gab es auch genug, manch einer hängt ganz schön in den Seilen. Geschafft, aber glücklich. Man will mehr davon, wenn irgendwie möglich. Viele sehen Dinge, die sie während der Vorstellung noch gern gemacht hätten, aber keine Zeit mehr dafür war. Manch Theaterbegeisterter wäre am liebsten gleichzeitig in mehreren Vorstellungen, aber das ist ja leider nicht möglich.

FAZIT: TOLLER ABEND

 

Und jetzt kommen wir zu der Schlussfolgerung:

 

Jeder hat  die Vorstellung ERLEBT, die er verdient.hat.

 

Außer Gruppe 0. Die wären wahrscheinlich alle gern dabei gewesen. Und diejenigen Zuschauer, denen etwas passiert ist und die deswegen nicht so konnten wie sie wollten. Das tut uns sehr leid.

 

Der Maulwurf ist nachdenklich geworden. Er fragt mich, wann wir eigentlich mal ins Theater gehn. Und zu welcher Gruppe wir dann gehören. Und ob ihm die unsichtbare Stimmungsweste passt, weil er doch so klein ist.

 

Und das sind alles wirklich gute Fragen.