· 

Mensch und Maulwurf: ein Dialog (51)

Daheim

 

Einige Zeit ist vergangen, seit sich der Maulwurf hier zu Wort gemeldet hat. Doch er ist immer da.

 

Gestern haben wir in einem Leipziger Café gesessen und darüber diskutiert, wo man eigentlich zuhause ist. Und warum (nicht).

 

***

In Leipzig-Reudnitz 2024
In Leipzig-Reudnitz 2024

 

Maulwurf (schlürft einen Macadamia-Winterkaffee und guckt träumerisch aus dem großen Caféfenster auf die Straße): "Du kommst also wirklich hier aus Leipzig?"

Ich: "Ja. Die Familie meiner Mutter besteht aus Leipzigern - aus Gohlis und Eutritzsch, aus Reudnitz, Stötteritz und Böhlitz-Ehrenberg. Wir sind hier weggezogen, als ich ein Kind war, wegen der Arbeit meiner Eltern."

Maulwurf: "Und, warst Du da traurig?"

Ich: "Einerseits ja, andererseits habe ich mich auch auf die neue Stadt gefreut, verstehtst Du?"

Maulwurf: "Ja... Und dann?"

Ich: "Bin ich mit meinen Eltern in die neue Stadt gekommen. Hatte Heimweh, fühlte mich allein. Doch ich habe mich eingewöhnt; bald war hier mein Zuhause. Ich kam in die Schule, hatte Freundinnen - nie hätte ich zu der Zeit woanders sein wollen. Außerdem war Leipzig ja weiter vorhanden, ich verbrachte viel Zeit dort, weil meine Großeltern mütterlicherseits da lebten. Am Wochenende oder in den Schulferien durfte ich zu ihnen kommen, hatte sogar ein eigenes Zimmer. Und zahlreiche andere Verwandte. Wenn ich dann dort einige Tage war und wieder heimfahren musste, war es ein Hin- und Hergerissensein zwischen alt und neu."

Maulwurf: "Und als Du erwachsen warst, bist Du da wieder nach Leipzig zurück gezogen?"

Yvonne: "Ja und nein. Ich wollte das, als es noch nicht ging. Meine Uni war woanders und ich hatte daheim bei meinen Eltern einen Hund, der nicht mit in die Großstadt hätte umziehen sollen. Noch dazu, wenn ich dann den ganzen Tag nicht da sein würde. Während meines Studiums habe ich dann ein mehrmonatiges Praktikum in Leipzig gemacht und auch da gewohnt. Das war schön."

Maulwurf: "Und später?"

Ich: ".... habe ich mich verliebt und -"

 

Hier unterbricht mich der Maulwurf, indem er herumspringt, mit den Armen fuchtelt und sich seine drei Haare rauft.

 

Maulwurf (grimmig): "Lass mich raten, da war dann wieder alles anders."

Yvonne (lächelt): "Ja. Wegen der Liebe - klar. Doch noch was. Vergiss bitte nicht: wir schweben ja nicht im luftleeren Raum. Der Lebensunterhalt muss verdient werden, man hat familiäre Verpflichtungen, berufliche und sonstige Pläne - da geht nicht immer alles zusammen - auf manches muss man verzichten, um anderes behalten zu können."

Maulwurf (gespannt): "Und Du - hast auf Leipzig verzichtet?"

Yvonne: "Ja. Vorerst. Man kann in einer kleineren Stadt mit so schöner Umgebung wie da, wo wir jetzt wohnen, sehr schön ein Kind großziehen. Es hat es da besser als in der Großstadt, finde ich. Außerdem haben wir beide dann in der kleinen Stadt gearbeitet, sind mit unserem Kind eine Familie geworden. Und einen Job hat man damals nicht so einfach hingeschmissen - denn es gab nicht so viele."

Maulwurf (nickt ernsthaft): "Verstehe. Und - jetzt...?"

Yvonne (nachdenklich): "Das - ist eine sehr gute Frage. Heute, wo wir hier sitzen, bin ich wieder hin- und hergerissen. Ich spüre sofort, wenn ich in Leipzig durch die Straßen gehe - Heimat. Und gleichzeitig Fremdheit. Wahrscheinlich würden wir uns hier schnell wieder eingewöhnen, wenn wir das eines Tages wirklich täten: zurückkommen.... Der Gedanke, beim Einschlafen wieder die Straßenbahn am Haus vorbeifahren zu hören, so wie als kleines Kind, der ist wirklich schön. "

Maulwurf (aufgeregt): "Da weiß ich schon, wo wir dann immer Kaffee trinken gehen. HIER."

 

Er verdreht genießerisch die Augen und beißt noch ein Stück von meiner Nusstorte ab. Ich muss lächeln und ja - er hat recht, mich danach zu fragen. Auch mir geht das im Kopf herum, denn scheinbar kann das einmal so tief Eingeprägte aus früher Kindheit mühelos wieder an die Oberfläche des Denkens und der Gefühle heraufkommen. Kann man, nein, kann ich an dieses Uralt-Heimatgefühl wieder andocken, wenn ich das will?

 

Vieles hat sich sehr verändert und anderes ist gut erkennbar noch da. Manchmal fast, als wäre man nie weggewesen. Leipzig war früher insgesamt grauer, schmutziger, heruntergekommener - die Wohnverhältnisse waren ungleich schlechter als heute. Die Braunkohletagebaue und die Chemieindustrie der Umgebung verschmutzten die Luft, hinterließen Dreck an Fassaden, auf Fenstern, auf Straßen, auf Autos. Auch da, wo wir wohnten, im Osten der Stadt. Doch unsere Wohnung war schön, hatte sogar ein Bad, eine Innentoilette, eine Etagenheizung -  alles damals keine Selbstverständlichkeit. Auf dem kleinen Balkon, der zum Hof hinausging, blühten im Sommer die hellroten Pelargonien meiner Oma unvergleichlich prächtig und verströmten diesen speziellen würzigen Duft, den die runden Blätter mit den feinen Haaren haben. Ging man aus dem Haus, so gab es ein Kino, eine Schule, zwei Parks. Bäcker, Fleischer und mehrere kleine Konsum-Läden, eine Konditorei, die Eisdiele, eine alte Apotheke mit wunderschöner holzgetäfelter Inneneinrichtung, ein Kaufhaus, mehrere Friseure, ein Lampengeschäft, ein paar Kneipen, ein Straßenbahn-Depot. Die Markus-Kirche, in der ich getauft wurde, hat man 1978 gesprengt. Nur ihr Pfarrhaus steht heute noch da. Unweit auch das Grassi-Museum mit seiner völkerkundlichen Sammlung. Nebenan der alte Johannis-Friedhof, wo Käthchen Schönkopf begraben liegt, in die einst der junge Goethe in seiner Leipziger Zeit verliebt war. Alles vertraut.

 

Gehe ich heute durch diese Straßen, so sind zwar viele der Häuser in den letzten dreißig Jahren saniert worden und manche sogar ganz neu - doch macht alles einen nachlässigen, einen beliebigen Eindruck.

 

Etwas fehlt. Und anderes kam Stück für Stück dazu.

 

Da ist der arabische Friseur, in dessen Räumlichkeiten früher eine Bank war. Ein großes Haus mit graupolierter Granitfassade im Erdgeschossbereich ist das - in meiner Kinderzeit trotz Smog relativ sauber und glänzend - für mich damals wie ein Palast auch der Innenbereich: mit schimmernden Steinfußböden, schöner Beleuchtung, verglasten Schaltern, gutgekleideten Leuten. Heute ist diese Fassade beklebt mit Papier; besprüht, beschmiert, kaputt teilweise. Die Klientel trägt meist Jogginganzug. Das Haus, wo die schöne Apotheke einst drin war, ist völlig heruntergekommen. Der Ladenbereich geschlossen; vernagelt, ohne Scheiben. Man erkennt trotzdem noch die einstige Besonderheit dieser Fensterfront. Shisha-Bars, Döner-Läden, ab und zu ein China-Imbiss. Mal ein Reisebüro. Ein kleiner Klamottenladen, in dessen Fenster ein langes schlichtes Frauenkleid mit Kopftuch und Gesichtsschleier hängt. Schaufenster mit orientalischem Teegeschirr und riesigen Tabletts. Mal ein alternatives Café.

 

Straßenbahnen bleiben an den Haltestellen stehen, die noch an denselben Orten sind wie früher. Mit der 4 fährt man immer noch von hier aus in die Innenstadt. Die Straße der Befreiung heißt jetzt wieder Dresdner Straße; der Karl-Marx-Platz wurde wieder zum Augustusplatz.

 

Doch viele der Leute, die aus- und einsteigen, sind heute ganz andere.

 

***

 

Der Maulwurf wird wie immer an dieser Stelle seiner literarischen Aufgabe gerecht.

 

Maulwurf: "Noch ein Zitat, Mylady?"

Ich: "Ich bitte darum, mein Lieber."

Maulwurf: "Also dann, pass auf:"

 

"Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

woraus wir nicht vertrieben werden können."

(Jean Paul)

 

Und das stimmt wohl.