Romeo, Julia und wir
Die in der Supermarktstory vom 09. Oktober 2024 schon angesprochene Alles-gemeinsam-Phase vieler frisch verliebter Paare wird irgendwann durch etwas anderes abgelöst. Durch Normalität, Alltag, weniger Romantik. Statt vergnügt Dinge für ein schönes gemeinsames Abendessen auszusuchen und sich dabei zärtlich in die Augen zu schauen, schaufelt man angestrengt Vorräte für die ganze Woche in den Wagen, entsorgt tonnenweise Leergut, kümmert sich um den nicht immer lustigen Broterwerb, die wachsende Familie und um deren Ältere, die nun mehr und mehr Unterstützung brauchen.
Liebe und Pragmatismus hätten aus Romeo und Julia wahrscheinlich fürsorgliche Eltern, zuverlässige Berufstätige und Ehrenamtler, hilfsbereite Söhne und Töchter gemacht. Romeo und Julia sind jung gestorben; wir zum Glück nicht. Klar verändern sich Dinge und Menschen; wir bleiben nicht immer fünfzehn Jahre alt und die Fahrt mit einem modernen Auto ist angenehmer als die mit der früher betriebenen Kutsche.
Doch nach der Alles-gemeinsam-Phase und der pragmatischen Phase kommt noch eine andere; ich nenne sie mal Egalphase - doch nur bei manchen Paaren. Ich hoffe, mir - uns - bleibt sie erspart.
Man merkt den Beginn dieser Phase als Frau, wenn der eigene Mann anfängt, nicht mehr neben einem, sondern weit voraus zu laufen. Ich sehe das oft auf der Straße. Entweder will er nicht mehr mit seiner "alten Schachtel" zusammen gesehen werden oder er ist sich seiner Frau so sicher, dass er nicht davon ausgeht, ihr könnte etwas zustoßen, sie könnte ihm verloren gehen oder gar abhauen. Schließlich ist sie ja bis heute bei ihm geblieben, warum sollte sie also plötzlich morgen weg sein? Vielleicht läuft sie ihm ja auch nur zu langsam, guckt sich Schaufenster an, Blumen, Häuser, trifft Bekannte, bleibt kurz stehen. Umgedreht verhalten sich Frauen nach Jahren gegenüber ihren Männern manchmal schrecklich, wenn sie dauernd an ihnen herumkritisieren und auf ihnen herumhacken. Allein und auch noch vor Publikum - auf der Straße, beim Einkaufen, im Restaurant.
Warum ist die Person, in die man mal verliebt war, mit der einen eine Menge gemeinsame Jahre, ein ganzes Zusammen-Leben oft verbindet, plötzlich so egal? Logisch ist, dass Leidenschaft sich irgendwann verliert, doch die Verbundenheit, die wirkliche Liebe nicht. Vielleicht sollte man sich auch nie zu sicher sein, auch die eigene Beziehung ist nicht alternativlos. Das Schlimme ist: nicht nur für einen selbst, sondern für den anderen auch. Der könnte auch gehen, jederzeit.
Deshalb sind Respekt, Rücksicht und Freundlichkeit so wichtig: für die friedliche und erfreuliche Koexistenz. Und diese verbietet zum Beispiel das dämliche Vorausrennen und bedeutsame, auffällige Anglotzen anderer Frauen in der Öffentlichkeit, liebe Männer. Und das ewige Herumgemecker am eigenen Mann und dessen schlimme Demütigung vor anderen in der Öffenlichkeit, liebe Frauen.
Romeo und Julia sind tot; doch wir leben. Und der Balkon der beiden Liebenden ist auch noch da, denn man hat sich in Verona mit Aufmerksamkeit, Sachkunde, Respekt und Liebe um ihn gekümmert.
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Wenn nach der Nachtigall sich auch die Lerche verabschiedet hat, gibt es jede Menge neue Möglichkeiten für uns, die meistens durch viel mehr miteinander verbunden sind, als wir im Alltag bemerken.