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Die Schafe und der Hirte

Moderne Fabel über Ursache, Wirkung und Dummheit

Julius Hugo Bergmann (1861 - 1940): Schäfer mit seiner Herde
Julius Hugo Bergmann (1861 - 1940): Schäfer mit seiner Herde

 

Es war einmal ein großer Weidegrund, durchflossen von einem klaren Bach, in dem Forellen und kleine Krebse lebten, sogar Muscheln gab es. Saftige Kräuter und Gräser wuchsen überall. Ein paar alte Bäume standen da und spendeten Schatten oder Schutz vor Regen. Es waren auch Obstbäume darunter, so dass ab und zu reife Birnen und Äpfel auf das dichte Gras fielen. Oder blauschwarze Kirschen. Vögel nisteten in den Bäumen, sangen darin, wenn im Frühjahr die Blüten in den Zweigen aufbrachen. Bald blühte der Löwenzahn. Bärwurz, Rotklee und Schafgarbe dufteten. Am Wegrand wuchsen Rainfarn, das gelbe Johanniskraut und große lila Lupinen. Rings um den riesigen Weidegrund hatte man schon vor langer Zeit einen massiven Zaun gebaut. Denn ein Stück dahinter begann die Wildnis, lag der Wald, in dem auch Wölfe lebten. 

 

In diesem Bachtal wohnte ein Hirte mit seiner großen Schafsherde. Am Rand von Schafsweide und Kartoffelacker lag sein Hirtenhaus mit einem geräumigen Schafstall. Hier wohnten die Hirtenfamilie, die Schafe und die Hütehunde. Ein paar Hühner und Enten gab es auch noch und zwei Katzen, die die Ratten fernhielten.

 

Der Hirte war ein nun schon alter Mann, der sich sein ganzes Leben lang um Schafe gekümmert und das in seiner Jugend umfassend gelernt hatte. Viel Zeit verbrachte er mit den Schafen und seinem damaligen Lehrmeister auf der Weide, in den Ställen, beim Tierarzt und in der landwirtschaftlichen Bibliothek. Er hatte Schafstall und Weidezaun in Ordnung gehalten, sich um die Lämmer und die kranken Tiere gesorgt; hatte besonders angriffslustige Wölfe eigenhändig vertrieben, notfalls auch mit der Waffe. Er räumte Unrat aus dem Bachbett, damit die Schafe immer gutes Wasser hatten. Der Mann hatte andere Hirten kennengelernt und sprach von Zeit zu Zeit mit ihnen. Sie alle handelten so ähnlich wie er. Wenn fremde Leute anderer Profession versuchten, ihm seine Arbeit zu erklären, so hörte er ruhig zu und dachte über das Gesprochene wohl nach. Doch verstand er nicht, wieso ein Doktor der Philosophie, eine Küchenhilfe oder ein abgebrochener Jurastudent ihm etwas über den Umgang mit seinen Schafen zu sagen haben sollten.

 

Dieser alte Hirte machte Fehler und lernte daraus. Er hatte Erfolge erlebt und Niederlagen. Beide waren immer seine - er stand dazu und redete sich nicht heraus. Was sich als gut erwies und bewährt hatte, das entwickelte dieser Hirte weiter. Was schlecht war, änderte er oder ließ es ganz. Am wichtigsten war ihm immer, dass es seinen Tieren gut ging. Das war die Lebensgrundlage seiner Familie. Dass ein Hirte ohne Schafe nichts mehr war, das wusste dieser Mann. Seine Schafe gediehen, lebten größtenteils gesund, satt, sicher und sorglos. Unwetter und Seuchen gingen vorbei. Nur selten starb ein Schaf vor seiner Zeit.

 

Der Hirte blickte auf einen großen Erfahrungsschatz zurück, denn er lebte nun schon so lange. Doch war er jetzt alt und trachtete danach, seine Schäfergeschäfte in jüngere Hände zu legen. Sein Sohn sollte die Schafe übernehmen, hatte aber wenig Lust gehabt, sich dafür ausbilden zu lassen. Es war ihm zu mühevoll. Außerdem dachte er sich: "Was gibt es da wohl groß zu lernen? Das werde ich schon hinkriegen. Wir schaffen das." Der alte Hirte wollte den Jungen wenigstens anlernen, ihn mit den Risiken vertraut machen, doch der Neuling erwies sich als überheblich, respektlos und träge. Alles wusste er besser. Er gab nichts auf das Wissen des Älteren, nichts auf dessen Erfahrung. Und schon gar nicht teilte er die Liebe des Vaters zu seinen Tieren.

 

Wo der Alte seine Schafe sah, Lebewesen, für die er sich verantwortlich fühlte, da sah der Junge nur Wolle oder Fleisch mit einem Preisschild dran. Was sollte daran so besonders sein? Mit dieser Gefühlsduselei würde er schon Schluss machen, wenn er erst einmal das Sagen hatte. Dieser Tag kam schneller als gedacht, denn der alte Hirte starb im darauffolgenden Winter.

 

Im Frühjahr kam der junge Hirte mit den Schafen auf die Weide. Er hatte einige Änderungen vorgenommen, denn er war zwar noch recht unerfahren, doch hatte er seine festen Ansichten.

 

Den Weidezaun hatte der junge Mann nach dem Winter nicht wieder instandgesetzt. Er riss ihn teilweise sogar ganz nieder. Wozu brauchte man schon einen Zaun? Bisher hatte es doch kaum Wolfsangriffe gegeben. Und wenn ab und zu doch ein Wolf aus dem Wald kam, so würden sich die Schafe schon daran gewöhnen, mit der Zeit. 

 

Denn der junge Schäfer hatte von anderen Menschen gehört, dass Zäune schlecht seien, da sie ja die Freiheit der Wölfe beschränkten.

 

Auch die Bäume auf dem Weidegrund holzte er ab und verkaufte sie als Brennmaterial; den Bach verwendete er als Abwasserkanal; schon bald lebte darin kaum noch etwas. Am Schafstall machte er wenig und gab ihn dem Verfall preis. Die Zeit verging.

 

Den Schafen ging es bald schlechter als früher. Das gute Futter wurde weniger, weil es die Bäume nicht mehr gab und der Bach nur noch ein stinkendes Rinnsal war. Deswegen hatten sie auch kein sauberes Bachwasser mehr zum Trinken. Öfter krank wurden die Tiere, standen dichtgedrängt ratlos auf dem verdorrenden Gras und fürchteten sich vor dem nächsten Wolfsangriff. Denn das war das Schlimmste.

 

Wölfe in immer größerer Zahl kamen nun von weither, denn das Verhalten des hiesigen Hirten war auch in der Ferne nicht unbemerkt geblieben. Die Raubtiere wußten bald, dass sie hier ungehindert auf die Schafsweide spazieren konnten, um sich sozusagen an die gedeckte Tafel zu setzen. Sie jagten zuerst die Tiere ein bisschen zum Spaß, mal schleppten sie ein Lamm fort, mal töteten sie ein Mutterschaf, mal die Katzen - eine nach der anderen. Dann kamen sie regelmäßig, versorgten sich hier mit Fleisch, das es ja im Überfluss zu geben schien.

 

Einige der Hütehunde taten ihr Bestes, um die Räuber abzuwehren. Doch sie waren zu wenige und viele von ihnen schon zu alt. Ihre Arbeit wurde immer gefährlicher und aussichtsloser, je mehr Wölfe es gab und je dreister diese wurden. Die meisten der Hütehund-Nachkommen wurden nicht mehr zum Hüten der Schafe ausgebildet, sondern traten in einem bunten Zirkus auf, den der neue Hirte seit einiger Zeit in seinem Gehöft betrieb. Selbst die Wölfe gingen manchmal dort vorbei und lachten sich über die Hunde in ihren Tüllröckchen kaputt, die zwar wie ein Mensch auf zwei Beinen gehen und ein Bällchen auf der Nase balancieren konnten, aber für die Verteidigung nicht mehr zu gebrauchen waren.

 

Genauso wie der junge Hirte selbst; mit Waffen konnte und wollte er nicht umgehen. Zäune konnte und wollte er nicht bauen oder reparieren. Die Schafe schützen konnte und wollte er nicht. Was wollte er denn?

 

Er gedachte die Wölfe zu zähmen und in seine Schafsherde zu integrieren. Sein Traum war eine Art gemischte Wolf-Schaf-Gemeinschaft. So nannte er das, so hatten es ihm diejenigen erzählt, die keine Hirten waren. Da quartierte dieser Hirte anfangs ein paar Einzelwölfe, später ganze Rudel in einem abgetrennten Teil des alten Schafstalles ein. Er bot ihnen Heu und Möhren an oder gab ihnen Spielzeug wie einst den jungen Hütehunden. Sollten diese Wölfe das Blöken erlernen? Wie denn; natürlich heulten sie nach Wolfsart weiter.

 

Jahre vergingen.

 

Doch die Wölfe dachten gar nicht daran, sich in seine Gemeinschaft einzufügen. Sie waren Wölfe und so lebten sie, wie sie es gewöhnt waren. Was konnten sie dafür, dass die Schafe sich nicht wehrten? Was interessierte es sie, dass auch der Hirte versuchte, ihnen - den Wölfen - ein Leben schmackhaft zu machen, mit dem sie gar nichts anfangen konnten?

 

Das Elend nahm seinen Lauf.

 

Die Schafe litten, wurden verstümmelt, gefressen, vertrieben.  Sie starben, doch die Wölfe wurden mehr und mehr; die Weide war bald nur noch ein wüstes Gebiet. Der Schafstall verfiel; Ratten bevölkerten die Ruine, denn es gab ja keine Katzen mehr. Die letzten Schafe liefen davon, um anderswo eine Weide zu suchen. Und vielleicht auch einen Hirten mit gesundem Menschenverstand.

 

Die Familie des hiesigen Hirten hatte das Gehöft längst verlassen, denn wegen der vielen Wölfe, die sich Stück für Stück das Territorium eroberten, war es auch für die Menschen zu gefährlich geworden, weiter hier zu leben. Außerdem kam es immer wieder zu Streit in der Hirtenfamilie, ob man nicht die Wölfe doch wieder in den Wald zurückjagen und einen neuen Weidezaun bauen sollte. So könne es ja nun auch nicht bleiben.

 

Doch am Ende hat keiner was gemacht. 

 

Als der nun auch nicht mehr junge Hirte das elterliche Gehöft als Letzter verließ und sich beim Abschied noch einmal umwandte, da dachte er an früher. An den klaren Bach mit seinen Forellen, Krebsen und Muscheln, an den Schatten und die Früchte der Bäume, die duftende Wiese, das zufriedene Blöken der Schafe. Die springenden kleinen Lämmer im Frühling, den schützenden Schafstall mit seinem Regen und Schnee abhaltenden Dach. An sein eigenes Hirtenhaus mit den zuverlässigen, freundlichen Hütehunden und dem Kartoffelacker nebenan. An die orange leuchtenden Mittagsblumen, die in der Sonne dösenden Katzen und den blauen Rittersporn; die Vogelbeeren, die Kastanien im Herbst und die gemütlichen Winterabende am Kamin des Hirtenhauses. Und wie sein Vater bei jedem Wetter immer mal hinausgegangen war, um nach den Schafen im Stall oder auf der Weide zu sehen.

 

Und - nach dem Zaun.