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Hervorgeholt: Schlesische Geschichte

Frau D. und ihr rollendes R

www.ndr.de / Schlesische Trachten in Hannover
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Als ich noch ein Schulkind war, hatten wir in unserer Schulküche eine Küchenfrau namens Frau D.. Sie war eine besondere Erscheinung, ziemlich dick und mit entenhaftem Watschelgang, grau-braunem Wuschelhaar und einer starken Brille. Frau D. war oft guter Laune, immer aber aufgeregt, wuselte in ihrer Küche herum, rührte und schöpfte, verteilte und wischte und - sprach mit uns.

 

Schlesien ist hier das dunkelblau eingerahmte Gebiet, mit kleinem deutschen und tschechischen Anteil. Der Großteil ist heute polnisch. (Quelle: Schlesienportal)
Schlesien ist hier das dunkelblau eingerahmte Gebiet, mit kleinem deutschen und tschechischen Anteil. Der Großteil ist heute polnisch. (Quelle: Schlesienportal)

 

Mich konnte sie gut leiden, weil ich immer alles aufgegessen habe, was sie mir auf den Teller lud. Egal, was oder wieviel es war. Denn bis zum heutigen Tag esse ich eigentlich alles: außer "Saure Flecke" und Mohnkuchen. Und das gab es bei Frau D. in der Schulküche nie.

 

Ausrasten konnte sie dagegen, wenn meine Schulkollegen so manches gute Stück Fleisch, die Bratwurst oder einen halben Teller Nudeln einfach in den Abfall kippten. Da Frau D. Hunger und Entbehrung kannte, war das für sie unerträglich. Mir damals schon gut verständlich. Sie erzählte mal, wie sie als junge Frau in der Nachkriegszeit aus dünnen Kartoffelschalen und Kaffeeersatz-Satz einen Kuchen für irgendeinen Anlass gebacken hat. Das rührt mich heute. Damals fand ich es abenteuerlich. Zumal ich ähnliches heimlich öfters mal zu Hause testete. Zum Glück nicht aus Not, sondern aus Neugier und Ausprobierlust. Ich habe zum Beispiel mal versucht, zu Hause Pfefferminzbonbons selber herzustellen. Das Ergebnis war äußerst klebrig und unansehnlich - aber essbar.

 

Das Besondere an Frau D. war ihre Sprache. Zum Ende des zweiten Weltkrieges war sie aus ihrer Heimat, dem heute polnischen Teil Schlesiens, vertrieben worden und dann nach Sachsen gekommen. Ein herrlicher Dialekt! Frau D. rollte das Rrrrrrr wie keine Zweite. Mit ihrer kehligen Stimme rief, lachte und schimpfte sie in dieser eigentümlichen Sprache. Mir hat das gefallen. Es war besonders. Und auch irgendwie fremdartig. Und lustig. Auch die Großmutter eines Schulfreundes war Schlesierin. Ihr Ausspruch: "Hans-Jürrrrrrrgen, würrrrdest Du nicht soviel rrräden, sonder lieber esssssen, kenntest Du schon viel dickkkkker sein." ist heute noch legendär.

 

Wir bummeln mal durch ein paar Bilder Schlesien. Durch Breslau, Katowitz, Oppeln.... Ist schon schön, oder ? Frau D. würde staunen, könnte sie heute ihre alte Heimat sehen. Ich verwende die deutschen Ortsnamen nicht, weil ich die Ostgebiete wiederhaben will. Sondern weil wir auch zu Prag nicht Praha und zu Florenz nicht Firenze sagen.

 

(www.pixabay.de)

 

Warum die beiden oben genannten Damen ihre Heimat verlassen mussten und was damals alles passiert war, wusste ich als Kind nicht. Auch in der Schule wurde darüber nicht gesprochen. Die Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten waren kein Thema. Die umfangreiche Geschichte dieser östlichen Ländereien, angefangen beim Deutschen Ritterorden bis zur Kaiserlich-Königlichen Monarchie Österreich-Ungarn leider auch nicht. Man sprach nicht darüber.

 

Wegen der vielen schlimmen Geschehnisse bei Vertreibung und Flucht, wobei auch die Rote Armee eine Rolle spielte - inzwischen geht die Forschung auch bei vorsichtiger Analyse von ca. 600.000 Toten und rund 2 Millionen vergewaltigter Frauen und Mädchen aus. Wegen der freundschaftlichen Verbundenheit der DDR mit der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und der ČSSR, die man durch diese alten Geschichten nicht belasten wollte. Man wünschte sich, endlich Frieden zu haben und musste sich im Kalten Krieg positionieren. Da war kein Platz für die Aufarbeitung dieses heiklen Themas. Es wurde verdrängt und oft totgeschwiegen. In der Politik, in der Gesellschaft, in der Familie. Im Westen Deutschlands gab es Vertriebenenverbände und Entschädigungen. Im Osten  nicht.

 

Auch in anderen Bereichen verdrängte man unliebsame Geschichte. Alte Würdenträger des Hitlerstaates konnten oft in West und Ost als Parteifunktionäre, Richter, Lehrer oder in der Industrie weiterarbeiten, nach 1945. Ich war neugierig.

 

Was war da passiert ? Ich konnte nur das eine oder andere aus den Verwandten herausfragen, aber viel wollten sie mir davon wohl auch nicht erzählen. Zumal in unserer Familie direkt keiner von dort kam.

 

Später hat mich das dann weiter interessiert und ich habe Einiges dazu gelesen und gesehen. Und gelernt, dass viele Deutsche, 12 - 14 Millionen Menschen aus den Ostgebieten,  damals ihre Heimat verloren. Seit Jahrhunderten siedelten Deutsche beispielsweise in Schlesien, durch den zweiten Weltkrieg änderte sich das. Dieses Land hat eine sehr wechselvolle Geschichte, ähnlich wie Pommern oder Ostpreußen.

 

Auch der Kreisauer Kreis, die Gruppe um Graf Claus Schenk von Stauffenberg hatte ihren Ursprung in Schlesien. Nämlich auf Gut Kreisau, wo man sich Anfang der 1940er Jahre ab und zu traf und nach einer politischen Lösung für das Land suchte. Das Ergebnis war dann das Attentat vom 20. Juli 1944. Große Hochachtung habe ich für die Mitglieder dieses Bundes. Natürlich für Herrn von Stauffenberg selbst, aber auch für Herrn von Moltke, dem das Gut Kreisau gehörte, für Herrn Reichwein, Pastor Delp und die vielen anderen mutigen Leute. 

 

Die Historie, die Kultur, das Essen und die schöne Natur tragen dazu bei, dass ich Polen als Land sehr faszinierend finde und Breslau / Wroclaw schon länger auf meinem Reisezettel steht. Ich war schon an der polnischen Ostseeküste - in Danzig und Sopot. Auch in Warschau, Lodz (nicht wegen Theo) und dem wunderschönen Krakau. Aber noch nie in Schlesien, dessen Großteil heute zu Polen gehört, siehe Karte oben. Nur im deutschen Zipfel  Schlesiens westlich von Görlitz und in dieser schönen Stadt selber war ich schon.

 

www.kulturwerk-schlesien.de / Flucht 1945
www.kulturwerk-schlesien.de / Flucht 1945

 

Heute denke ich manchmal an Frau D., ihre Herzensgüte, ihre Lustigkeit, ihre Lebensfreude. Aber auch an ihre Wut auf die Essensverschwender und ihre starke Nervosität. Ich weiß nicht, was ihr passiert ist auf ihrem Weg damals aus der alten in die neue Heimat. Aber schlimm wird es auf jeden Fall gewesen sein. Der Verlust der Heimat war schon furchtbar genug. Aber diese Flucht war auch sehr gefährlich. Viele Menschen starben, vor allem die Kinder und die Alten. Krankheit, Hunger, Vergewaltigung, Raub, Mord und Kriegsgeschehen waren gegenwärtig. Auch waren die Vertriebenen in den westlicher gelegenen Teilen Deutschlands bei der eingesessenen Bevölkerung nicht so willkommen. Man rümpfte über sie die Nase und bezeichnete die Neuen beispielsweise als Polacken. Wer es geschafft hat, sprach hinterher nicht darüber. Oder wenig.

 

Du kennst bestimmt auch jemanden mit schlesischen Wurzeln. Typische schlesische Familiennamen sind zum Beispiel Bednarz, Kretzschmar, Piontek, Ulitz, Fitzek, Baran. Leider stirbt dieser schöne Dialekt aus.

 

Hier habe ich Dir noch einen Artikel des SPIEGEL mitgebracht. Da wird über eine schlesische Familie und ihre Geschichte berichtet. Interessant und berührend.

 

 

 

***

 

Der Maulwurf und ich, wir üben das rollende Rrrrrrr. Aber wir können es nur schlecht. Sind halt keine Schlesier.....

 

Und uns ist noch was anderes eingefallen: Du, das gibt es wirklich, das Schlesische Himmelreich. Es ist ein sehr bekanntes Gericht, gekocht aus Schweinebauch, Backobst und einer Soße mit Zimt und Pfefferkuchenkrümel angedickt. Dazu gibt es Klöße.

 

Wir sind ganz begeistert und werden es mal nachkochen. Diese süß-deftige Mischung mag ich besonders. Ähnlich wie unser sächsischer Sauerbraten.

 

Wenn Frau D. das wüsste, was Pawel und ich uns so für Gedanken über sie machen, dann würde sie laut aus ihrer Küche rufen: "Ach, ihrrrrr Wänsterrrrrr," Und uns einen Teller Schlesisches Himmelreich über den Tresen reichen und lachen. Hach, wär das schön.