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Die kleine Ameise

Eine moderne Fabel?

www.pixabay.com / Roman Grac
www.pixabay.com / Roman Grac

 

Kürzlich fand ich beim Herumstöbern in verschiedensten Texten die Geschichte von der kleinen Ameise. Diese Story geht meines Wissens nach auf die Autorin Gisela Rieger zurück und kursiert in verschiedenen Versionen in der realen und virtuellen Welt.

 

Beim Lesen nickte ich zustimmend, ja, sowas hatte ich auch schon erlebt. So schien es mir auf Anhieb. 

 

Trotzdem stimmt mit dieser sicher wirklich sehr fleißigen Ameise und ihrer Geschichte was nicht.

 

Was ist es, das mich da stört?

 

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Aber lies erst mal den Ameisentext (frei nach Frau Rieger) , möglichst unvoreingenommen:

 

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Die kleine Ameise 

 

Die kleine Ameise kam jeden Tag zeitig zum Dienst und fing sofort an zu arbeiten. Sie war sehr fleißig, schaffte viel und fühlte sich glücklich dabei.

Ihr Chef, ein Löwe, wunderte sich, dass die Ameise ohne Aufsicht so gut arbeitete. Er dachte, wenn sie ohne Aufsicht so viel schaffte, dann könnte sie mit Aufsicht sicher noch viel produktiver sein. Also stellte er eine Kakerlake, die BWL studiert und Erfahrung als Controllerin hatte, ein. Die Kakerlake richtete als erstes eine Stechuhr ein. Dann brauchte die Kakerlake eine Sekretärin, die ihr beim Schreiben der Berichte helfen sollte. Sie engagierte eine Spinne, die für die Archive und den Telefondienst zuständig war. Der Löwe war entzückt über die Berichte der Kakerlake und bat sie, Grafiken mit Produktionsdiagrammen zu erstellen, Tendenzen zu analysieren, damit er diese bei den Besprechungen mit der Geschäftsführung vorlegen konnte. Also kaufte die Kakerlake einen neuen Computer, einen Laserdrucker und stellte eine Fliege ein, welche die IT-Abteilung managen sollte.

Die Ameise, die einst so produktiv und glücklich war, hasste diese Unmengen von Papieren, die sie jeden Tag ausfüllen musste und die vielen Besprechungen, die sie von der Arbeit abhielten. Außerdem hatten ihr auf einmal viele Personen etwas zu sagen, was die Ameise beim Arbeiten störte und verwirrte. Denn oft kam es vor, dass sie widersprüchliche Anweisungen erhielt und mehrfach rückfragen musste, was denn nun zu tun sei. Zusätzlich zu ihren neuen Kollegen und Vorgesetzten gab es jetzt auch noch einen Betriebsrat und eine Gleichstellungsbeauftragte.

Der Löwe entschied, dass es an der Zeit sei, endlich jemanden zur Leitung der Abteilung einzustellen, in der die Ameise arbeitete. Die Wahl fiel auf eine Grille, die als erstes einen neuen Teppich und einen ergonomischen Stuhl für ihr Büro kaufte. Sie brauchte auch einen Computer und einen persönlichen Assistenten, der ihr helfen sollte, das Budget und einen Optimierungsplan zu erstellen.

Die Abteilung, in der die Ameise arbeitete, war nun ein trauriger Ort. Niemand lachte mehr, und durch die vielen Kontrollen und Berichte kam kaum jemand zu seinen eigentlichen Aufgaben.

Dem Löwen wurde mitgeteilt, dass laut Statistik die Abteilung der Ameise nicht mehr so produktiv war wie früher. Also rief der Löwe die Eule, eine anerkannte Gutachterin, um eine Lösung für das Problem zu finden. Die Eule verbrachte drei Monate in der Abteilung und legte am Ende einen langen Bericht vor. Zusammenfassend meinte die Eule: „Die Abteilung ist überbesetzt!“

Und wen feuerte der Löwe zuerst?

 

Die Ameise natürlich, weil sie unmotiviert war und eine negative Haltung hatte.

 

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Das beschriebene Geschehen, das eine sehr motivierte Person bei ihrer fleißigen Arbeit durch überladene Strukturen und unnütze Kommunikation behindert und frustriert wird, das gibt es. Es gibt auch ein Zuviel an Kontrolle und Auswertung. Falsche Schlüsse können aus vorliegenden Fakten gezogen werden, das passiert.

 

Es ist schon klar, dass es sich hier um eine Fabel handelt. Also um ein vereinfachtes Geschehen zum Verdeutlichen und Verstehen von Zusammenhängen. Aber ist diese Metapher vom losgelösten, erfolgreichen Einzelkämpfer und den ausschließlich als Schmarotzern auffälligen Anderen denn richtig?

 

Gucken wir mal:

 

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Eine gut funktionierende Abteilung braucht eine gute Organisation. Die hier beschriebene so glücklich allein arbeitende Ameise hätte es in der Realität schwer bis unmöglich. Denn nur wenige Leute arbeiten so einsam vor sich hin für irgendeinen einzelnen Chef wie den Löwen mit ominöser Geschäftsleitung im Hintergrund. Sicher gibt es das auch, ist aber nicht der Regelfall.

 

Denn meist ist es so, dass nicht einer alleine den gesamten Arbeitsablauf abdeckt. Er braucht Unterstützung. Das ganze Szenario ist viel komplexer. Das ist das Erste, was mir an dieser Geschichte nicht gefällt. Die losgelöst betrachtete Einzelameise.

 

Machen wir mal ein Gedankenspiel:

 

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Dazu nehmen wir als Beispiel das Backen. Unsere Ameise ist also ein fleißiger Bäcker. Sie bäckt Brot, Brötchen und Kuchen. Sie könnte auch Schweißer sein und Metallbauten herstellen. Oder als Möbeltischer schöne Einzelanfertigungen für anspruchsvolle Holzliebhaber bauen. Oder als Gärtner Obst, Gemüse und Blumen anbauen. Als Schmied Teile für Motoren schmieden oder als Instandhalter Vakuumpumpen reparieren. Oder was auch immer.

 

Wir entscheiden uns heute für die Bäckerameise.

 

Sie springt also froh gelaunt nachts um eins aus dem Bett, eilt in die Backstube und will tatkräftig losbacken.

 

Sie braucht dazu eine Backstube in arbeitsbereitem Zustand: mit den notwendigen Geräten, Werkzeugen, evtl. sogar Maschinen. Je nachdem, wieviel der Löwe und die Geschäftsleitung an Backwerk verlangen. Aber selbst bei kleinerem Auftragsvolumen muss ein Backraum mit einer entsprechenden Ausrüstung da sein. Der muss gebaut, in Betrieb genommen, abgeschlossen, bewacht, regelmäßig saubergemacht, die technische Einrichtung gewartet werden. Den Strom für das Licht beim Arbeiten braucht die Bäckerameise auf jeden Fall. Oder jemanden, der regelmäßig Fackeln nachrüstet, wenn die Ameise Teig knetet. Wir gehen von einer modernen Ameise aus - also braucht sie Elektroenergie. Evtl. auch für eine Knetmaschine, für einen elektrischen Backofen, für ein Radio, einen Computer mit Rezepte- und Lagerverwaltung, einen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine....wie auch immer. Der Strom muss irgendwo produziert und der Ameise bereitgestellt werden. Denn das kann sie nicht alles alleine, es sei denn, sie bäckt im Home-Office.... Mit dem Wasser, Abwasser und der Heizung verhält es sich genau so. Vielleicht will die Bäckerameise nach getaner Arbeit auch duschen, bevor sie heimgeht oder muss zwischendurch mal auf den Topf? Entsprechende Räume müssen vorhanden sein und gepflegt werden.

 

Das Nächste sind die Backzutaten. Woher hat die Ameise massenweise Mehl, Butter, Eier, Milch, Schokolade, Zucker, Vanille, Quark, Kokosflocken, Früchte, Mohn, Zimt, Hefe, Backpulver und so weiter ? Holt sie das alles selber aus dem Großmarkt? Dann hätte sie viel weniger Zeit zum Backen.

 

Was passiert mit dem fertigen Backwerk? Schafft die Ameise ihre Produkte etwa alleine zum Löwen? Wohl kaum. Also braucht sie jemanden, der das alles abholt und weiterverteilt. Falls der Löwe nur der Chef ist und nicht das ganze Backwerk für sich braucht, muss es wohl auch Abnehmer für Brot und Kuchen geben? Wer verkauft das Zeug wo und wie? Eingenommenes Geld muss abgerechnet werden. Die Ameise arbeitet sicher nicht nur zum Vergnügen, sondern erwartet einen Lohn. Wer zahlt den aus? Wer kümmert sich um Steuern und sonstige Abgaben? Wer legt Preise fest, sucht nach neuen Backrezepten und vergleicht sich mit anderen Bäckereien, die es gibt? Wer kümmert sich um angemessene Arbeitskleidung für die Ameise? Macht das die universell gebildete Ameise alles allein? Selbst wenn sie es theoretisch kann, dann schafft sie es trotzdem schon rein zeitlich nicht.

 

Wer reinigt die Backstube nach getaner Arbeit? Wer bäckt, wenn die Ameise mal krank ist oder frei hat? Wer kümmert sich um die Wartung der Bäckereiausrüstung und deren Ersatz, wenn es nötig ist? Wer repariert Stromkabel, Wasserleitungen, Mauerwerk, Türen und Fenster bei Bedarf?

 

Sicher nicht eine Ameise allein. Bei komplexeren Arbeitsaufgaben braucht sie ein Team, was diese ganzen Jobs um sie herum erledigt. Erst damit wird sie nämlich in die Lage versetzt, ihre eigene Arbeit machen zu können.

 

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Das ist nun die Aufgabe: Ein sinnvolles Team zusammenstellen. Das muss der Löwe gemeinsam mit der Ameise machen. Einen Plan entwerfen, wie es gehen könnte. Den umsetzen und gucken, ob das so funktioniert. Wenn nicht, nachbessern. Und immer mal wieder prüfen, ob alles noch rund läuft. Gemeinsam mit dem Ameisen-und-Löwen-Team, was dann aus allen möglichen Mitgliedern besteht.

 

Stellt sich dabei heraus, dass etwas schlecht funktioniert, dann wird es wieder korrigiert. Hat man zuviele Spinnen, Kakerlaken, Fliegen, Eulen und zuwenige Ameisen oder umgedreht ? Wirbeln X Ameisen fleißig herum, haben aber nicht die Zuarbeit und Unterstützung von außen, die sie brauchen? Leiden Sie unter Materialmangel, Maschinenausfällen, zu langer Arbeitszeit oder Stress miteinander? 

 

Oder ist tatsächlich der bürokratische Aufwand zu groß geworden?

 

In keinem Fall hilft es, sich selbst zu bemitleiden. So wie die Ameise in der Geschichte bzw. der Erzähler dieser Geschichte es tut ("ein trauriger Ort", "niemand lachte mehr", am Ende unverstanden davongejagt....). Und das ist das Zweite, was mir an der Geschichte nicht gefällt: der jammernde Grundton.

 

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Die eierlegende Wollmichsau ist der Traum jedes Arbeitgebers. Und dann wäre es noch schön, wenn der Tag vierzig Stunden hätte.

 

Da das aber nicht realistisch ist und es weder die Universalameise noch unbegrenzt viel Zeit gibt - deswegen brauchen wir einander.

 

 

Gute Zusammenarbeit ist gekennzeichnet von Respekt untereinander. Von der Achtung, die man vor der Arbeit und der Person des anderen hat. Das einem klar ist, dass derjenige sich auch was denkt bei dem, was er täglich macht. Sein Wissen, seine Erfahrung sind zu schätzen. Und wenn Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen auftreten, kann man das auch wieder ändern. Jeder, der was macht, macht mal Fehler.

 

Auch Einzelameisen, Kakerlaken, Löwen, Spinnen, Du und ich und sonstige Kollegen.

 

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FAZIT

 

1. Neben dem Wert der eigenen Arbeit muss man den Wert der Arbeit der Anderen sehen. Und nicht nur die Arbeit der Ameise, sondern auch die Mühe der anderen Beteiligten, ohne die der Fleiß der Ameise völlig sinnlos wäre: Also bündeln wir die Kräfte und überwinden Schwachstellen, die es immer gibt! Wasserkopf-Strukturen müssen erkannt und beseitigt werden.

 

2. Vorgesetzte sollten nicht in erster Linie als Überwacher agieren und wahrgenommen werden. Sondern sie sind im besten Fall die "Arbeitsvorbereiter" für ihre Abteilung. Ihr Tun und ihre Kommunikation sollten Mitarbeiter bei der Arbeit unterstützen, ja, sie teilweise erst ermöglichen. Voraussetzungen schaffen - das ist die Aufgabe der Chefs und Chefinnen.. 

 

3. Selbstmitleid und Jammern bringen einen nicht weiter: Also tun wir uns nicht selber leid!

 

Kein Widerspruch: Einzelkämpfer und Teamplayer - der Maulwurf!
Kein Widerspruch: Einzelkämpfer und Teamplayer - der Maulwurf!