· 

Pressestimme aus der Schweiz

Zeitung "Die Weltwoche" interviewt den AfD-Politiker Björn Höcke

 

In der Schweizer Zeitung "Die Weltwoche" erschien vor ein paar Tagen ein Interview mit Björn Höcke, dem Fraktionsvorsitzenden der Thüringer AfD. Ein ruhiger Umgang des Chefredakteurs Roger Köppel prägt den Beitrag. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Herrn Höcke in der deutschen Presse gibt es nicht. Da nehmen wir eben mal eine Schweizer Zeitung zur Hand. Hier der komplette Artikel vom 27.11.2019:

 

Foto: Dirk Lässig / Björn Höcke zu Hause in Bornhagen (www.weltwoche.ch)
Foto: Dirk Lässig / Björn Höcke zu Hause in Bornhagen (www.weltwoche.ch)

In der letzten Weltwoche kritisierte der renommierte deutsche Filmproduzent Nico Hofmann, ein Liberaler, aufs heftigste den Mann, der uns nun freundlich in seinem Büro begrüsst. Björn Höcke, Jahrgang 1972, Leitfigur der Thüringer AfD in Erfurt, ist der umstrittenste Politiker der Bundesrepublik.

Unter seiner Führung avancierte die AfD zur zweitstärksten Kraft im Landtag. Doch Höcke polarisiert weit über Thüringen hinaus als Person, mit seinen Reden, mit seinen kontroversen Aussagen, vor allem zur deutschen Geschichte. Für die einen ist er ein gefährlicher Rechter, für die anderen ein mutiger Patriot. An Höcke entzündet sich die grosse Streitfrage der deutschen Politik: Wie hältst Du’s mit der AfD?

Interessanterweise gibt es in den deutschen Mainstream-Medien keine richtigen Interviews mit dem Mann, der von sich selber sagt, er sei ein «bürgerlicher Rebell». Die Journalisten haben sich aufs Feindbild, auf die Chiffre Höcke, eingeschossen. Wie er selber denkt, was er politisch wirklich will, scheint nicht zu interessieren. Eine sachliche Auseinandersetzung findet nicht mehr statt. In Deutschland muss man Höcke inzwischen dämonisieren, um nicht selber dämonisiert zu werden.

Von aussen betrachtet, lässt sich die Hysterie schwer nachvollziehen. Wir sind deshalb nach Erfurt gefahren, um uns selber ein Bild zu machen. Wir wollten dem umstrittensten, vermutlich meistangefeindeten deutschen Politiker der Gegenwart die Möglichkeit geben, einmal seine Sicht der Dinge darzulegen.

In unserem Gespräch, das sich über mehrere Stunden hinzog, bestätigte sich das mediale Skandalbild nicht. Höcke wirkte überlegt und differenziert, auch selbstkritisch im Umgang mit seinen kontroversen Botschaften. Angesichts der Brisanz der Debatte und der massiven Aufgeregtheit dokumentieren wir das Interview in voller Länge.

 

Herr Höcke, warum sind Sie Politiker geworden?

Vermutlich bin ich gar kein richtiger Politiker. Auf jeden Fall hat mich der offizielle Politikbetrieb mit all den Postenjägern und Selbstdarstellern eher abgestossen. Mein Weg in die Politik war alles andere als vorgezeichnet. Immer faszinierten mich Deutschland, die deutsche Geschichte, die deutsche Literatur, die Philosophie. Man sagt mir nach, ich sei ein Nationalromantiker. Da ist was dran, auch wenn es nicht meine ganze Person erfasst. Mich trieb die Sorge um die Zukunft Deutschlands in die Politik, durchaus unwillig.

War Politik in der Jugend ein Thema?

Ja. Ich war ein Fan von Helmut Kohl. Sein Versprechen einer geistig-moralischen Wende sprach mich an. Als 14-Jähriger ging ich in die Junge Union, zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Die JU galt unter Schulkollegen als spiessig und muffig. Ich ging trotzdem hin, weil ich oft das Gegenteil machte von dem, was die Mehrheit wollte.

Warum blieben Sie nicht in der CDU?

Die Strukturen der Mutterpartei schreckten mich ab. Es gab schon in der Nachwuchsorganisation Opportunisten und Karrieristen, zu wenig Lebendigkeit. Ich merkte, dieser Mainstream ist nichts für mich. Bald war ich wieder weg.

Gab es jemals einen linken Höcke?

An der Uni fiel ich nicht besonders auf. Ich war auch politisch nicht aktiv. Ich war kein Outsider, genoss die Studienzeit. Auch war ich nie Burschenschafter oder in rechten oder konservativen Zirkeln dabei. Einen linken Anteil in meinem Denken aber gibt es – wenn man darunter meine Sensibilität für soziale Fragen versteht.

Sie waren Gymnasiallehrer für Geschichte, im Westen.

Ich bin ausgebildeter Gymnasiallehrer, und der Lehrerberuf war für mich kein blosser Job, sondern eine Berufung. Ich pflegte guten Kontakt zu den Eltern, zu den Schülern, auch zu den Kollegen, die mich, wenn Sie sie fragen würden, sicher geschätzt haben. Als Lehrer erlebte ich gesellschaftliche Fehlentwicklungen hautnah. Statt zu bilden, mussten wir erziehen, integrieren und «inkludieren». Die Bildung verfällt. Ich habe es erlebt. Der Leidensdruck wurde immer grösser.

Was war der konkrete Anlass, der Sie in die Parteipolitik brachte?

Das war bei mir, wie bei vielen, die Euro-Rettungspolitik unseres Parlaments in Berlin. Deutsches Volksvermögen wurde leichtfertig ins Feuer geschaufelt; dies empfinde ich heute noch als Skandal. Schlimm war auch die Art und Weise, wie das gemacht wurde: Das höchste deutsche Parlament hatte sich vom Volkswillen abgekoppelt. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach einmal von der «erstarrten Parteiendemokratie». So war es bei der Euro-Rettung, alles wirkte abgekartet. So konnte es nicht weitergehen.

Wie kamen Sie auf die AfD?

Im Netz kursierten Aufrufe, man solle gegen diese verheerende Euro-Politik in den Bundesländern Gleichgesinnte sammeln, und das haben wir in Thüringen umgesetzt. Da war ich dabei, in einer Struktur von vierzig bis fünfzig Mitstreitern. Das war die Urzelle.

Warum Thüringen? Sie sind im Westen aufgewachsen.

Durch Zufall. Meine Kindheit verbrachte ich im Rheinland, nahe Koblenz. Übers Studium kam ich nach Hessen. Meine Stellen als Lehrer führten mich über Südhessen an die Grenze zu Thüringen. Dort gefiel es uns, weil die Welt noch einigermassen in Ordnung ist. Als ich mit meiner Frau ein Haus suchte, fanden wir ein 500-jähriges Pfarrhaus im Thüringer Eichsfeld.

Eine wichtige Prägung waren Ihre Grosseltern, Vertriebene aus Ostpreussen. Können Sie das ausführen?

Die Medien verteufelten mich im letzten Wahlkampf als «Wessi», der sich im Osten wichtigmache. Die Wahrheit ist: Ich habe mich nie als «Wessi» empfunden. Meine Grosseltern väterlicherseits stammen aus der Nähe von Königsberg, und die Kultur des alten Ostdeutschland war präsent in meiner Familie. Sie wurde mir auch weitervermittelt, von Literatur, Dichtung, Geschichte bis hin zur Küche. Mir ist von Beginn an ein gesamtdeutsches Bewusstsein mitgegeben worden. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, das heutige Königsberg zu besuchen. Der Blick auf die überwachsenen Ruinen würde mich zu sehr bedrücken.

Heimatverlust war das grosse Thema Ihrer Familie.

Auf jeden Fall. Heimatverlust ist schwer zu verkraften. Das weiss ich aus der Erfahrung meiner nächsten Verwandten. Man muss die Heimat pflegen, wir haben keine andere. Und natürlich ist das der Grund, warum ich mich gegen den aktuellen Heimatverlust wehre, gegen die Multikulturalisierung, gegen die zerstörerische Zuwanderungspolitik, die uns Deutsche zur Minderheit im eigenen Land macht. In einigen Städten ist das bereits der Fall.

Sind Sie grundsätzlich gegen Ausländer? Es heisst, Sie streben ein «ethnisch homogenes Deutschland» an.

Überhaupt nicht. Das Volk ist ein breiter Strom mit zahlreichen Zuflüssen und Nebenflüssen. Ich habe viele ausländische Freunde, und es ist verrückt, was da für ein Zerrbild entworfen wird. Ebenso sehr wie der Heimatverlust beunruhigt mich deshalb die Entwicklung Deutschlands von einer vitalen Demokratie zu einem Gesinnungsstaat. Ich nenne es die Herrschaft der Political Correctness. Ich bin sehr freiheitsliebend und autoritätskritisch. Ich will über alle Dinge frei reden können, ohne Tabus, ohne Sprechverbote. Ich erhebe keinen Wahrheitsanspruch, bin offen für andere Meinungen, aber ich will mir meine Meinung nicht verbieten lassen. Der Kampf um die Meinungsäusserungsfreiheit treibt mich an, ist ein wichtiges Motiv.

Mit Blick auf die Migration sprechen Sie von «kultureller Kernschmelze». Was verstehen Sie darunter?

Wenn wir hier nicht baldmöglichst gegensteuern, droht ein nationales Desaster. Wir sind nicht für Abschottung. Aber bei der Zuwanderung wird heute alles falsch gemacht: zu viel, zu schnell, zu fremd. Noch dazu in einem Land, das seine eigene Kultur in Frage stellt. Das kann nicht gutgehen. Und wenn Deutschland fällt, fällt Europa.

Der Untergang des Abendlandes: Übertreiben Sie nicht?

Nein, das ist nicht übertrieben. Was ist von Rom übriggeblieben nach der Völkerwanderung?

Haben Sie gar kein Verständnis für die Kanzlerin, die aus humanitären Motiven handelte und den Deutschen, angesichts ihrer Geschichte, hässliche Bilder von der Grenze ersparen wollte?

Kein vernünftiger Mensch hätte doch etwas dagegen gehabt, wenn die Regierung im September 2015, als der Bahnhof in Budapest volllief, vielleicht für eine Woche das Recht ausser Kraft gesetzt und die 15 000 gestrandeten Migranten aufgenommen hätte. Aber dann hätte die klare Ansage der Kanzlerin an die Welt sein müssen: Das war eine absolute Ausnahme. Das Weltsozialamt Deutschland ist geschlossen.

Kanzlerin Merkel verwies auch auf den Mangel an Fachkräften.

Die Realität ist: Die Kartellparteien haben Deutschland zu einem Auswanderungsland für Fachkräfte und zu einem Einwanderungsland für Sozialempfänger gemacht. Sie zerstören damit unser bewährtes Wirtschaftsmodell und unseren Sozialstaat, der Verfassungsrang hat. Wir müssen die Anreize für Sozialhilfe-Migranten drastisch senken und den humanitären Schutz zeitlich begrenzen. Dann würde automatisch der massive Zug nach Deutschland eingedämmt werden. Dazu braucht es keine menschlichen Härten, nur Verantwortungsethik.

Wie kam es zur Reizfigur Höcke in der Politik?

Ich trat in der AfD an, um Denktabus aufzubrechen. Ich habe das am Anfang auch in unkluger Weise gemacht, zu heftig, sprachlich unangemessen, aber immer aus der Leidenschaft heraus, die falschen Denkschablonen zu sprengen. Ich habe nichts dagegen, wenn einer sagt: Der Höcke erzählt Unsinn. Aber sie haben versucht, mich als Menschen unmöglich zu machen, mich in eine falsche Ecke zu drücken.

Suchen Sie die Grenze, den Tabubruch ganz gezielt?

Das sehe ich anders. Ich versuche, aus innerer Wahrhaftigkeit heraus zu leben. Ich sage, was ich denke. Ich schaue weniger auf die Wirkung meiner Worte. Vielleicht sollte ich das manchmal tun. Unser heutiges Parteien-Establishment ist verkrustet. Die Debatten laufen nach Ritualen ab, ein Austausch von Floskeln. Wer nicht berechnend unterwegs ist, wird sogleich auf die Abschussliste gesetzt, weil er den Konsens stört. Der Auftrag der AfD ist es aber, dieses stickige Konsensklima zu stören.

Sie haben ziemlich bald den Giftschrank angesteuert, indem Sie eine komplette Neubeurteilung der deutschen Geschichte gefordert haben. Was war Ihre Überlegung?

Die Geschichte ist die Hure der Politik. Geschichte wird von den jeweils Herrschenden immer missbraucht, um die eigene Herrschaft zu legitimieren. Ich wehre mich gegen die oberflächliche Einseitigkeit, mit der über die deutsche Geschichte gesprochen wird. Für mich beginnt die Geschichte Europas mit den Epen Homers, und auch die deutsche hat einen langen, verwickelten Vorlauf. Mich interessieren die historischen Hintergründe wichtiger Ereignisse, nicht nur das Hier und Heute. Da habe ich den Blick des kritischen Historikers.

Was stört Sie konkret?

Mich stört, dass viele Kreise gut verdienen daran, dass sie die deutsche Geschichte in krassem Weiss und Schwarz beschreiben. Wir sind die Guten, und alle anderen sind die bösen Nazis. Unzählige Organisationen, Parteien, auch die Medien leben davon. Weil sie inhaltlich nichts mehr zu bieten haben, geben diese Vertreter bis weit in linksextreme Kreise vor, angebliche Nazis zu jagen. Die Eliten missbrauchen die Geschichte, um Andersdenkende abzukanzeln und einzuschüchtern. Deshalb gehe ich die Diskussion offensiv an, weil ich die Motive der andern infam finde.

Ihre Forderung einer «erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad» hat Stürme der Entrüstung ausgelöst. Was genau meinten Sie damit?

Der Satz wurde gezielt missverstanden. Man legte mir in den Mund, ich wolle das Dritte Reich verherrlichen. So ein Unsinn! Interessanterweise hat mich niemand gefragt, was ich denn genau meine. Fakt ist: Da gibt es nichts zu verherrlichen. Es gäbe für mich nichts Schlimmeres, als in einer Diktatur zu leben, und der Nationalsozialismus war ohne Zweifel eine Diktatur.

Was ist denn Ihre Botschaft?

180-Grad-Wende bedeutet: Man soll die schlechten Seiten der deutschen Geschichte nicht ausblenden, aber man soll die guten Seiten ins Zentrum des Erinnerns stellen.

Warum? Die Deutschen sind doch durchaus stolz darauf, dass sie sich so kritisch mit sich und ihrer Geschichte befassen.

Nichts gegen eine kritische Haltung; sie spricht ja für einen hohen sittlichen Eigenanspruch und den moralischen Impuls zu einer ehrlichen Verarbeitung der Ereignisse. Aber wenn man nur noch das Negative sieht, entwickelt man eine gestörte Identität.

Hat Deutschland eine gestörte Identität?

Die Deutschen haben in der Tat ein gebrochenes Selbstbewusstsein. Das reicht von Identitätsflucht bis zu nationalem Selbsthass. Aber das bringt nichts. Man kann der eigenen Haut nicht entkommen. Sinnvoller und psychisch gesünder ist es, die eigene Identität anzunehmen und sich mit allen Komplikationen auseinanderzusetzen, natürlich auch mit den Schattenseiten. Mein Argument lautet: Andere Länder stellen ihre bedeutenden Leistungen zu Recht in den Mittelpunkt, denn ein grundsätzlich positives Verhältnis zur eigenen Geschichte ist meines Erachtens die wesentliche Grundlage eines funktionierenden Gemeinwesens. Man kann kein Gemeinschaftsgefühl, auch keine Solidarität ausbilden, wenn man das eigene Land und seine Geschichte verachtet. Man muss mit sich ins Reine kommen.

Anfang 2017 haben Sie in einem Interview mit dem Wall Street Journal gesagt, es sei ein grosses Problem, Hitler als das absolute Böse darzustellen.

Ich bin zwar falsch zitiert worden, aber der Satz ist inhaltlich richtig.

Wie verstehen Sie diesen Satz?

Ich halte es tatsächlich für hoch problematisch, Hitler als das absolut Böse darzustellen. Denn so hebt man ihn ja quasi in göttliche Höhen, sozusagen als direkten Gegenspieler zum absolut Guten, zu Gott. Und indem man Hitler und seine Schergen in die absolute, also aussermenschliche Sphäre entrückt, befreit man sich selbst von jeder Verantwortung und Schuld.

Verharmlosung durch Überhöhung.

Genau. Das absolute Böse kann ja nur zwanghaft Böses hervorbringen. Aber wenn keine Wahl mehr besteht zwischen Gut und Böse, gibt es auch keine Verantwortung mehr. Um das zu verstehen, braucht es kein Ethikstudium. Es geht um Verantwortung und Verstrickung. Hitler konnte zwischen Gut und Böse wählen, und er hat das Böse gewählt. Von dieser Last sollten wir ihn und seine Helfershelfer nicht befreien.

Sie wollen einen deutschen Patriotismus wiederbeleben. Der grosse Liberale Otto Graf Lambsdorff aber sagte, die nationalen Symbole Deutschlands seien von den Nazis bleibend verseucht worden. Er könne damit nichts mehr anfangen.

Ich kann das durchaus nachvollziehen. Graf Lambsdorff war Teil der Erlebnisgeneration. Die haben das ganze schreckliche Unheil durchlitten, Diktatur, Krieg, Verbrechen, Stunde null, mit allem, was dazugehört. Dass man dann sagt, mit dem wolle man nichts mehr zu tun haben, es brauche einen kompletten Neuanfang, auch neue Symbole, das kann ich gut verstehen.

Sie ziehen aber offensichtlich ganz andere Schlussfolgerungen.

Nein. Genau das ist ja auch mein Punkt: Ein Zurück in der Geschichte gibt es nicht, gab es nie, und das ist auch gut so. Niemand will gescheiterte Systeme zurückholen. Aber wir können wegen eines verbrecherischen Regimes, das zwölf Jahre dauerte, nicht sämtliche Bestände unserer Geschichte und damit unsere Zukunft aufgeben. Ohne einen vitalen, gesunden, bescheidenen Patriotismus geht es auf Dauer nicht. Jedes Gemeinwesen braucht ein Wir-Gefühl, braucht Kitt. Vor allem dann, wenn der Wohlstand zerfällt und wenn die Notwendigkeit folgt, dass man sich einschränken muss, um den Schwächeren zu helfen. Die dunklen Wolken zeichnen sich ja bereits über der deutschen Industrie ab. Ohne solidarischen Patriotismus hat Deutschland die schlechteren Karten bei den kommenden Erschütterungen der Weltwirtschaft.

Der Patriotismus war in Deutschland eine gefährliche Droge, weil er – historisch nachweisbar – zum Grössenwahn geführt hat. Sehen Sie diese Gefahr nicht?

Doch. Deshalb bin ich gegen diesen rauschhaften, übersteigerten Nationalismus. Patriotismus, wie ich ihn definiere, ist geprägt durch Bescheidenheit. Aber eine aufrechte Haltung ist nun mal gesünder als eine gebeugte. Das hat nichts mit nationalem Autismus oder Narzissmus zu tun. Unter Patriotismus verstehe ich auch Respekt vor anderen, Freude an der Vielfalt der Kulturen. Das Andere schätzen, ohne sich selber aufzugeben: Das ist Patriotismus. Meine Sorge ist, dass es nur noch einen internationalen Einheitsbrei gibt. Mich fasziniert die Vielfalt. Und ich sehe sie bedroht.

Ihre Auftritte wirken auf viele nicht gerade wahnsinnig bescheiden. Selbst Parteikollegen sind befremdet. Höcke liebe sich und seine Provokationen mehr als Deutschland. Was sagen Sie dazu?

Die Provokation ist das Stilmittel des Kleinen. Obwohl wir erfolgreich sind, haben wir das Altparteienkartell und die Medien gegen uns. Es ist ein Kampf David gegen Goliath. Die Provokation sollte kein Selbstzweck, keine Manie sein, aber sie kann in bestimmten Situationen einen territorialen Gewinn für den Unterlegenen herbeiführen. Entscheidend sind die besseren Argumente.

Sind Ihre Fahnenumzüge Provokation?

Meine Güte, nein! Wir machen beim sogenannten Kyffhäusertreffen seit einigen Jahren einen Fahnenumzug. Es sind die Fahnen der sechzehn Bundesländer unserer Republik. Über Stilfragen kann man gerne streiten, aber muss man sich dafür schon schämen? Die CSU in Bayern zelebriert regelmässig Fahnenumzüge, alle finden das toll und heimatverbunden, aber wenn es Björn Höcke macht, ist es fast schon ein Verbrechen. Was kommt als Nächstes? Kritik an einer nicht genehmen Tischdekoration? Das ist doch verrückt.

Selbst der AfD-Vorsitzende Gauland, kein Gegner, spricht von Personenkult.

Das ist ein Missverständnis. Fragen Sie Weggefährten aus meinem Leben vor der Politik. Ich bin keiner, den es aus Geltungsdrang in die Politik verschlagen hat. Ich suche den Mittelpunkt nicht. Und ja, ich habe am Anfang Fehler gemacht. Warum? Weil ich als absolutes politisches Greenhorn eingestiegen bin, mit Leidenschaft, wahrscheinlich mit zu viel Leidenschaft. Nationalromantisch verklärt. Dazu stehe ich.

Diese Naivität nimmt Ihnen keiner ab.

Aber es ist so. An die Glätte des politischen Parketts musste ich mich nach ein paar Ausrutschern zuerst einmal gewöhnen. Und die unglaubliche Feindseligkeit des Establishments darf man nicht unterschätzen. Legionen lauern darauf, ein Härchen in der Suppe zu finden.

Wie kam es zu den grossen Massenaufläufen, die Sie berüchtigt gemacht haben?

Die AfD Thüringen hat in den letzten fünf Jahren rund 200 Anträge ins Plenum gebracht. Kein einziger wurde überwiesen, weder in die Beratung noch in die Abstimmung. Es war die totale Blockade des Altparteienkartells gegen uns von Anfang an. Also gingen wir raus, auf die Strasse, um unsere Botschaft ins Volk zu tragen. Sie haben Volksentscheide in der Schweiz, wir haben das nicht. So haben in Thüringen die Grossdemonstrationen angefangen. 2014 habe ich zum ersten Mal vor 5000 Menschen gesprochen. Die Lautsprecheranlage war völlig unterdimensioniert. Die Antifa-Demonstranten mit ihren Trillerpfeifen wurden bis auf zehn Meter an den Redner rangelassen. Wenn Sie nicht mehr hören, was Sie sagen, werden Sie automatisch lauter. Dann hat sich meine Stimme überschlagen, und die Sequenzen entstanden, die mir heute unangenehm sind, weil es Kreisklasse ist und nicht Bundesliga.

Was haben Sie da Skandalöses gesagt?

Ich habe von «Angsträumen für Frauen» gesprochen. Das war am Anfang der Flüchtlingskrise. Das durfte man damals noch nicht sagen, bis dann die Kölner Silvesternacht meine Aussage bestätigte.

Grenzwertiger fand ich Ihre obsessive Verwendung des Adjektivs «tausendjährig». Als Geschichtslehrer wissen Sie, dass Sie hier mit Nazi-Jargon hantieren.

Ach was. Als Geschichtslehrer weiss man, dass die Existenz Deutschlands etwa tausend Jahre alt ist. Das ist eine Tatsache. Der frühere SPD-Kanzler Helmut Schmidt hat das Wort «tausendjährig» auch verwendet. Helmut Schmidt darf das, aber Björn Höcke darf das nicht?

Die Deutschen, sagten Sie auch mal, sollen nicht mehr «Schaf», sondern «Wolf» sein. Das exakt gleiche Bild verwendete Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels. Muss man sich vor Ihnen fürchten, Herr Höcke?

Ich meine es nicht böse. Und ich wildere nicht im Nazi-Wortschatz. Ich überprüfe vor meinen Reden allerdings nicht, ob dies oder das auch schon von Goebbels gesagt wurde. Mein Geschichtshorizont geht über die letzten 75 Jahre hinaus. Von meiner romantischen Ader haben wir gesprochen. Ich habe keine Rhetorikkurse besucht, aber in der Rhetorik geht es um eine bilderreiche Sprache. Wenn ich das Wort «Wolf» verwende, dann lehne ich mich an Tierfabeln an, die es schon im Lateinischen gibt.

Während Ihrer Reden kochen die Säle. Die Menge skandiert «Merkel muss weg!». Haben Sie keine Angst, dass der Funke irgendwann zu hoch springt?

Die Situation, dass man nur noch mit den Fingern zu schnippen braucht und eine Revolution bricht aus, die habe ich so noch nie erlebt. Abgesehen davon, dass ich die Revolution als Konservativer gar nicht will. Natürlich ist ein extremer Unmut im Volk, gerade im Osten. Die Verwerfungen der Flüchtlingspolitik sind hier am deutlichsten zu spüren. Die Menschen haben den Kanal voll. Und wenn sie sich dann durch die Medien als Nazis verunglimpft sehen, obwohl sie sich selber als mündige Bürger empfinden, dann verstärkt sich der Unmut zur Empörung. Die Sprechchöre haben auch eine Ventilfunktion. Sie drücken aus, was die Leute ehrlich denken: Merkel mit ihrer falschen Flüchtlingspolitik muss weg.

Was ist rückblickend Ihr grösster Fehler?

Ich denke, meine Dresdner Rede. Sie war inhaltlich richtig, die Botschaft stimmte, aber ich habe ein grosses, vielleicht das grösste Thema für die Deutschen, die eigene Geschichte, auf dem Niveau einer Bierzeltrede vergeigt.

Dort fielen die berüchtigten Sätze mit der erinnerungspolitischen 180-Grad-Wende und dem Holocaust-Mahnmal als «Mahnmal der Schande».

Ja, das war falsch. Nicht der Inhalt, aber der Stil. Punkt. Das darf einem Politiker grundsätzlich nicht passieren. Aber ich habe mich dafür öffentlich entschuldigt, was von den Medien weder wahr- noch angenommen wurde. Das ist nicht nur unfair, es ist unanständig. Ich sehe leider bei vielen Journalisten menschliche Defizite.

Müssen nicht Sie Ihre Rhetorik abrüsten?

Ja, klar. Diese Schlussfolgerung habe auch ich gezogen. Meiner Meinung nach ist das Tiefenbewusstsein vieler Deutscher richtiggehend durchtränkt von der Political Correctness. Wir sind wie gelähmt, und wenn ich dann gegen diese Konventionen verstosse, aus meiner Sicht ohne böse Hintergedanken, gibt es allergische Reaktionen. Deshalb formuliere ich heute anders.

Kürzlich haben Sie ein Fernsehinterview abgebrochen. Zu dünnhäutig? Es kann Sie ja nicht überraschen, dass einer, der austeilt, auch hart angepackt wird.

Zugegeben. Aber vergessen Sie nicht, dass ich in den letzten sechs Jahren so geprügelt worden bin wie wahrscheinlich kein Politiker seit 1945. Ich persönlich habe mittlerweile eine gewisse Hornhaut, aber ich bin auch ein Mensch und ein Familienvater.

Was erleben Sie an Anfeindungen?

In zivilisierten demokratischen Ländern sollte es möglich sein, dass ein Politiker von der öffentlichen in die private Sphäre wechseln kann. Mir stellt man aber in die Privatsphäre nach. Ende 2017 haben mir als Künstler getarnte Polit-Aktivisten ein Holocaust-Mahnmal in den Nachbarsgarten gestellt und mit riesigen Teleobjektiven mein Haus observiert. Die gaben sogar zu, meine Familie über Monate beschattet und abgehört zu haben, auch in den Ferien. Ich hatte das Gefühl, ich sei ein Jahr lang nackt unterwegs gewesen.

Wurden diese Leute nach ihrem Geständnis polizeilich belangt?

Nein, das gilt als Kunstfreiheit. Immerhin hat der CDU-Landtagspräsident von Thüringen als einziger hochrangiger Politiker gesagt, dies seien die Zersetzungsmethoden der Stasi. Psychologische Kriegsführung.

Haben Sie Personenschutz?

Ja.

Was sagt Ihre Frau dazu?

Die hält mir Gott sei Dank die Treue und den Rücken frei. Sie ist überzeugt, dass es notwendig ist, was ich mache.

Es gab aufgrund Ihrer Dresdner Rede ein Parteiausschlussverfahren gegen Sie, das aber ad acta gelegt wurde. Wie stark hat Ihnen das Ganze geschadet?

Die AfD steht seit ihrer Gründung unter Druck, intern wie extern. Es gab auch Machtkämpfe. Man versuchte, meine verbalen Missgriffe gegen mich auszunützen für eigene Vorteile. Diese Leute sind aber gescheitert. So schmerzlich das Ganze für mich persönlich war, so habe ich es doch auch als eine Art Erziehungsprogramm empfunden. Die Partei hat mehr Zusammenhalt und Disziplin gelernt. Ich musste viel Prügel einstecken von Parteikollegen über die Medien, aber ich habe beschlossen: nicht reagieren. Vielen in der AfD dürfte klargeworden sein, auch wenn sie mit meinen Positionen nicht übereinstimmen, dass da einer ist, für den nicht sein Image zuoberst steht, sondern der fürs Ganze denkt. Dass da einer ist, der nicht nur vom preussischen Dienstethos schwafelt, sondern es auch lebt. Darauf bin ich durchaus stolz.

Laut Gerichtsurteil darf man Sie «Faschist» nennen. Was sagen Sie dazu?

Das ist, zumindest im Rahmen einer öffentlichen Kundgebung, durch die Meinungsfreiheit gedeckt, Artikel 5 Grundgesetz. Als Bürger können Sie so auch einen Innenminister als üblen Landesverräter bezeichnen oder eine Kanzlerin als Diktatorin. Das heisst noch lange nicht, dass sie es sind. Besonders Schlaue haben aus dem Urteil gefolgert, ich wäre nun ein amtlich festgestellter Faschist. Was für ein Blödsinn.

Kurz vor den Wahlen griff in Halle ein Mann eine Synagoge an und erschoss dann zwei Passanten. Die Medien haben versucht, diese Untat der AfD unterzuschieben, indirekt auch Ihnen.

Der Mann war ein Einzeltäter, offenbar psychisch gestört. Er sagte selber, er sei kein Rechtsextremer, trotzdem wurde das so instrumentalisiert. Es war eine schreckliche Tat, aber keine verlängerte Gewalt rechter Umtriebe. Insgesamt ist es infam, der AfD eine Mitschuld unterzuschieben. Die AfD und ihre Protagonisten sind die Opfer im politischen Kampf der Gegenwart. Der grösste Teil aller politischen Gewalttaten richtet sich gegen die AfD. Unsere Wahlbüros werden abgefackelt. Wir kritisieren das Establishment, aber wir predigen Gewaltlosigkeit. Immer.

Wie definieren Sie Rechtsextremismus?

Politischer Extremismus, links oder rechts, ist vor allem die Durchsetzung politischer Ziele mit Gewalt. Das lehne ich in schärfster Form ab. In Deutschland aber wird dieser Begriff mittlerweile auf alle angewendet, die eine aus Sicht des Establishments falsche Gesinnung haben. Der Verfassungsschutz betreibt sogar Gesinnungsschnüffelei, dabei geht den Staat die Gesinnung seiner Bürger nichts an. Der Verfassungsschutz soll die Verfassung schützen, nicht die Etablierten.

In einem umfangreichen Gutachten des Verfassungschutzes werden Sie selber an etlichen Stellen erwähnt.

Ich bestreite die Objektivität und Qualität dieses Berichts. Da findet man wild zusammengeschusterte Zitate-Schnipsel, Mutmassungen und böswilligste Auslegungen, die zum Teil aus linksextremen Quellen stammen. Der renommierte Staats- und Verfassungsrechtler Professor Murswiek hat den Bericht an einer Pressekonferenz stark kritisiert. Ich stehe auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung. Selbstverständlich.

Wie gefährlich ist der Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern? Vor einem Jahr sollen in Chemnitz Nazis den Hitlergruss gezeigt haben.

Der einzige Mann, der deswegen bisher verurteilt wurde, war ein Linksextremer, eine gescheiterte Existenz. Ich finde es ungeheuerlich, wie der Osten der Republik verunglimpft wird. Es mag sein, dass bei Demonstrationen vereinzelt ein paar Verrückte oder Verwahrloste herumlaufen, die mit Nazisymbolen die letzte Station einer persönlichen Lebenskrise durchlaufen. Diese Leute sind unbedeutend, werden jedoch gezielt hochstilisiert, um die AfD und die Demonstranten anzuschwärzen.

Medien berichten, in den neuen Bundesländern hätten sich in den Köpfen «autoritäre Strukturen» aus zwei Diktaturen erhalten. Wie sehen Sie das?

Das ist Quatsch. Ich erlebe die Menschen im Osten häufig als viel emanzipierter. Diese Menschen gehen mit offenen Augen durchs Leben. Sie sehen die Probleme, sie haben noch aus der Zeit der Wende eine herrschaftskritische, freiheitliche Attitüde. Das Bürgertum wurde durch die Nazis und die Kommunisten arg lädiert. Viele Leistungsträger wanderten ab, aber man soll sich im Westen nicht so überheblich über die Landsleute im Osten stellen, die feine Antennen für die heutige wirklichkeitsfremde Propaganda aus Berlin haben.

Wie weit ist «zusammengewachsen, was zusammengehört»?

Gott sei Dank ist aufgrund der gesunden Renitenz im Osten noch nicht alles zusammengewachsen! Die junge Generation hat übrigens vor allem die AfD gewählt. Die Jungen sagen ja zu einem positiven Heimatgefühl.

Politisch wirkt Deutschland polarisiert wie nie.

Die Lage ist vertrackt. Wir erleben momentan einen regelrechten Kulturkampf zwischen zwei Lagern: auf der einen Seite kosmopolitische Universalisten, die von einer Weltbürgerschaft träumen. Auf der andere Seite nationale Nominalisten, die am Nationalstaat festhalten wollen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es bei der ersten Gruppe mit einer geschlossenen transatlantischen Polit-Elite zu tun haben, die mit allen möglichen Institutionen verzahnt ist. Diese Leute sitzen an den Hebeln der Macht. Ihnen geht es darum, die Vielfalt der nationalen Kulturen im Sinne einer One-World-Ideologie glattzuschleifen. Und ich glaube auch – obwohl ich Trumps Äusserungen manchmal sehr gewöhnungsbedürftig finde – dass Trump genau den gleichen Kampf gegen dieses Establishment führt wie wir. Es ist eine sehr harte Auseinandersetzung. Wir legen uns mit mächtigen Kreisen an. Aber wir haben die Bevölkerung auf unserer Seite, auch wenn ein grosser Teil noch Opfer der öffentlichen Meinungsmanipulation ist.

Sind Sie für Volksentscheide nach Schweizer Vorbild?

Ja. Wir brauchen bundesweite Volksentscheide. Ohne Volksentscheide in zentralen Fragen werden wir die versteinerte Parteiendemokratie nicht mehr wiederbeleben.

Soll Deutschland aus der EU austreten?

Das ist die Ultima Ratio. Wir dürfen diese Option nicht ausschliessen. Die EU in ihrem heutigen Zustand ist für mich eine Agentur der Globalisierung. Die europäischen Nationalstaaten sollen entmachtet werden. Die EU muss erkennen, dass sie eine gewachsene Vielfalt repräsentiert, also kein Moloch der Zentralisierung sein darf.

Euro?

Der Euro ist tot. Mausetot. Wir müssen zurück zu nationalen Währungen oder zu kleineren Währungsverbünden, die ökonomisch Sinn ergeben. Das wird ein ganz schwieriger Prozess, auch teuer, aber es wird noch teurer, wenn wir es nicht machen.

Wollen Sie den souveränen deutschen Nationalstaat zurück?

So weit wie möglich und sinnvoll. Ich spreche von einem klar umrissenen Verantwortungsraum. Unsere heutige politische Elite hat sich ins ideologische Wolkenkuckucksheim einer grenzauflösenden Politik verabschiedet – hypermoralisch aufgeladen. Greifbare Erfolge müssen nicht mehr nachgewiesen werden, man ist ja angeblich in einer guten Sache unterwegs. Unsere Vorstellungen sind da ganz anders: Als bürgerlicher Politiker hat man eine konkrete Verantwortung, räumlich und gemeinschaftlich begrenzt. Dort gestaltet man Politik, wird man überprüfbar im Erfolg oder Misserfolg. Der Bürger weiss dann auch, wen man abwählen kann. Darüber hinaus brauchen wir natürlich europäische Zusammenarbeit, im Sinne eines Staatenbundes, aber nicht im Sinne einer Gleichmacherei. Heute ist die EU organisierte Verantwortungslosigkeit.

Wie sehen Sie die angelsächsische Welt?

Den ungezügelten Manchester-Kapitalismus der Briten und Amerikaner lehne ich ab. Da stehe ich kontinentaleuropäisch in der Tradition deutscher Nationalökonomen. Wir haben das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Wir nennen es solidarischen Patriotismus.

Ist Ihnen Ludwig Erhard schon zu liberal?

Nein, aber bei den geistigen Vätern der sozialen Marktwirtschaft bin ich näher bei Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke, die der sozialen Steuerung durch den Staat eine grössere Bedeutung geben. Ich bin kein Anhänger des reinen Nachtwächterstaates, und ich stehe in der Tradition der katholischen Soziallehre.

Obwohl Sie Protestant sind.

Da bin ich agnostisch auf der Suche nach der besten Lösung. Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Der Staat hat Lenkungsbefugnisse. Die absolute Freiheit führt ins absolute Chaos.

Sie haben einmal gegen Stellenabbau bei Siemens demonstriert. Ist das noch bürgerlich oder schon links?

Bürgerlich heisst für mich: Man soll nicht bloss die Interessen der eigenen Schicht im Auge haben, sondern sich für das Ganze verantwortlich fühlen, einschliesslich der kleinen Leute. Insofern war die Aktion richtig. Bei der Thüringen-Wahl haben 28 Prozent der Selbständigen und 38 Prozent der Arbeiter für uns votiert, die Leistungsträger, die Deutschland am Laufen halten.

Ist es die Aufgabe bürgerlicher Politiker, einer Firma zu sagen, wie sie ihre Personalpolitik betreiben soll?

Laut Artikel 14 des Grundgesetzes gilt die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Ausserdem wäre es blauäugig, anzunehmen, dass Konzerne nicht auch politische Player sind. Und politische Entscheide drücken sich in Konzernentscheiden aus.

Wir beobachten, etwa bei Trump, eine Renaissance des Protektionismus. Sind Sie dafür?

Freihandel funktioniert nur, wenn die Partner auf Augenhöhe sind, sonst geht der schwächere unter. Afrika leidet unter der Agrarpolitik Europas. Wir müssen Afrika helfen, dass die Wertschöpfung dort bleibt. Die Globalisierung sehe ich daher skeptisch – auch ökologisch. Protektionismus aber kann nur sinnvoll sein als Schutz in der Aufbauphase eigener Produktionsstrukturen oder als Notmassnahme. Trump hingegen schützt marode Industrien, das ist kontraproduktiv.

Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld hat Sie kürzlich als «nationalen Sozialisten» bezeichnet.

Diese wenig schmeichelhafte Einordnung ist falsch. Ich bin noch lange kein Sozialist, weil ich das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft betone. Ich habe die Grundlagen von freiem Unternehmertum und Privateigentum nie in Frage gestellt. Ich fordere in Zeiten des Shareholder Value nur soziale Verantwortung des Unternehmers und das Recht des Staates auf Intervention, wenn das freie Spiel der Kräfte versagt. Ich vermute, Vera Lengsfeld wollte mich in eine bestimmte Ecke drücken, was ich sehr bedauere, denn ich schätze sie als kluge Analytikerin.

Vielleicht wäre ein klärendes Gespräch sinnvoll.

Ja, sicher. Und Frau Lengsfeld sollte mit ihren CDU-Parteifreunden in Sachsen-Anhalt sprechen. Von denen konnte man unlängst die Forderung vernehmen, das Nationale mit dem Sozialen zu verbinden.

Was bedeutet Bismarck für Sie? Sein Bild häng hier prominent.

Bismarck war einer der wenigen grossen Staatsmänner, die wir Deutschen hervorgebracht haben. Wir sind zwar reich an Denkern, Philosophen, Komponisten und Ingenieuren, aber wirkliche Staatsmänner haben wir wenige produziert. Bismarck gehört dazu. Unter anderem, weil er glasklar die nach wie vor gültige geopolitische Rahmenbedingung für Deutschland und Europa definiert hat: Einen Modus Vivendi mit Russland. Ohne Frieden mit Russland ist kein Friede in Europa möglich. Mit Bismarck müssen wir wieder das Bewusstsein entwickeln: Deutschland ist ein klassisches Mittlerland zwischen West und Ost, Nord und Süd. Leben und leben lassen, ohne sich selber aufzugeben.

Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie seien aus der Zeit gefallen, ein Art Don Quichotte, der sich gegen Unabänderlichkeiten auflehnt?

(Lacht) Wenn schon, dann bin ich ein Don Quichotte des gesunden Menschenverstands. Ich will zurück zu einer vernunftbasierten Politik, die den Menschen wieder gerecht wird.