Die Auferstehungslinde von Annaberg

Die Sage vom ungläubigen Burschen

Auferstehungslinde von Annaberg auf dem Alten Friedhof
Auferstehungslinde von Annaberg auf dem Alten Friedhof

 

Auf dem alten Friedhof in Annaberg Buchholz an der Trinitatiskirche steht eine ca. 500 Jahre alte Linde. Sie trägt den Namen "Auferstehungslinde".

 

Gepflanzt wurde sie bei der Weihe dieses Friedhofes Ende Oktober 1519. Das jährt sich dann in 2019 zum 500. Mal. Da die Linde davor aber auch schon als kleiner Baum vorhanden war, ist das nicht direkt ihr Geburtstag. Sie ist also etwas über 500 Jahre alt. Auf diese Weihe geht auch ein Volksfest, die Annaberger Kät, zurück, die jedes Jahr im Sommer viele Besucher in die Stadt lockt.

 

Dieser imposante alte Baum fällt durch seine mehrstämmige ausladende Form auf. Deshalb brauchte er auch menschliche Unterstützung und wurde vor einigen Jahren gepflegt und saniert, damit er weiterhin gesund an seinem alten Platz steht. 

 

Wie die Linde zu ihrem Namen kam und was es mit ihrer verzweigten Figur auf sich hat, berichtet eine alte Sage.

 

Also, pass gut auf:

 

***

 

Vor ungefähr 500 Jahren lebte in Annaberg ein junger Schustermeister namens Anton. Dieser Anton war ein sehr schlauer, geschickter und schneller Bursche. Gut ausgesehn hat er auch noch.

 

Dank seiner Pfiffigkeit und seines Ehrgeizes war er der jüngste Meister im Handwerk in Annaberg und weit und breit. Darauf war er sehr stolz, mit Recht. War nicht einfach gewesen, soviel zu lernen, hart zu arbeiten und seine Erfahrungen zu machen. Auch in Annaberg warteten die alten Meister der Schusterzunft nicht unbedingt auf einen Grünschnabel, der ihrer Meinung noch nicht trocken hinter den Ohren war, mit gerade 22 Jahren.

 

Aber mit seinem schusterlichen Können, seiner gewandten Redeweise  und einem perfekten Meisterstück in Gestalt aufwändig gestalteter Reitstiefel für den Bürgermeister überzeugte er seine Kollegen schließlich und wurde wohlwollend in ihren Kreis aufgenommen. Mehr oder weniger. Sagen wir mal, die alten Silberrücken gewöhnten sich langsam an den jungen Mann. 

 

Bei einer Diskussion am Biertisch zu fortgeschrittener Stunde ging es sehr lustig und ausgelassen zu. Anton wurde wieder wegen seiner Jugend geneckt. "Ha," rief ein graubärtiger Dicker, ebenfalls ein Schustermeister aus der Unterstadt, "schlimmer wäre nur noch, wenn ein Weib eines Tages sich Schustermeisterin nennen könnte." Alle grölten und lachten über diese absurde Idee, denn von den Weibern konnten sie sich alles mögliche vorstellen, nicht aber die Ausübung eines Handwerksberufes, noch dazu als Meisterin! Völlig ausgeschlossen, unvorstellbar und auch gottlos. Dieses geschah im November 1519, an einem nebligen Samstagabend in der Bergstadt Annaberg.

 

Am folgenden Sonntag war Anton mit schwerem Kopf aufgewacht. Er hatte noch ordentlich getrunken mit den alten Männern, wie er sie insgeheim nur noch nannte. Danach war er bei der Roswitha gewesen, einer freundlichen, kurvigen, rothaarigen, hübschen und klugen Frau. Sie war eine stadtbekannte Hure und hatte ein gutes Einkommen. Das ermöglichte ihr ein angenehmes Leben in einem schönen Haus. Stets gab es bei ihr gutes Essen und ausgezeichneten Wein für ihre Lieblingskunden. Dazu gehörte auch Anton.

 

Immer schäkerte sie mit ihm und sprach lachend: "Ich könnte ja Deine Mutter sein." Woraufhin Anton sie um die Hüfte packte, leicht hinters Ohr küsste und flüsterte: "Das bist Du aber nicht, meine Taube". Danach hatten sie noch einen sehr schönen Abend. Anton erinnerte sich nicht mehr an alles, was bestimmt auch ganz gut so war.

 

Frau Roswitha / www.pixabay.com / Thisismyurl
Frau Roswitha / www.pixabay.com / Thisismyurl

 

Jetzt, am Sonntagmorgen, hatte er Kopfschmerzen und einen Riesendurst. Seine Zunge fühlte sich pelzig und fremd an im Mund. Er sprang aus dem Bett und wusch sich mit eiskaltem Wasser vom Brunnen. Dabei trank er mindestens einen halben Liter davon gleich so weg. Er zog ein weißes Hemd und die neuesten Hosen an. Ein paar gute Stiefel und ein schwarzer Mantel mit Pelzbesatz vervollkommneten seinen Sonntagsstaat. Anton betrachtete sich im Spiegel und war nicht unzufrieden. Etwas blass zwar und mit mittleren Augenringen, aber sonst konnte er sich sehen lassen.

 

Er verabschiedete sich von Suse, seiner alten Magd und trat aus dem Haus in den milchigen Schein der Novembersonne. Mild der Tag, kein Frost. Schön.

 

Er holte die Mutter von seinem Elternhaus ab. Sie wartete schon allein an der Haustür. Sein Vater war vor einigen Jahren gestorben, die Schwestern auswärts verheiratet.

 

Die beiden traten gemeinsam ihren Weg zur Kirche an. Sie gingen durch die steilen Gassen der Stadt und traten in die Annenkirche ein. Kalt war es hier, aber auch wunderschön. Kerzen brannten im dämmrigen Kirchenschiff.

 

Der Priester predigte in Latein, denn die Reformation steckte noch in ihren Anfängen. Ein Wittenberger Professor namens Martin Luther hatte vor knapp zwei Jahren 95 Thesen zur Veränderung der römisch-katholischen Kirche veröffentlicht. In Leipzig war öffentlich darüber disputiert worden. Auch bis nach Annaberg hatte es sich herumgesprochen. Aber ein Sieg war hier noch nicht errungen worden, alles war erst in Bewegung gekommen.

 

Anton fand das einerseits gut. Die lateinischen Worte waren ihm unverständlich, die Ablassbriefverkäufer zuwider. Das ganze Gerede von Fegefeuer und Jüngstem Gericht hielt er für Lüge. Für eine Strategie der Mächtigen, die die menschliche Sehnsucht nach einer besseren Welt ausnutzten, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Leid taten ihm die Leute, die oft mit ihrem letzten Geld vermeintlich Seelenfrieden für geliebte Verstorbene zu erkaufen meinten. Und damit teure Bauwerke im fernen Rom finanzierten.

 

Der junge Schustermeister glaubte seit seinem vierzehnten Lebensjahr an nichts mehr als an seine eigene Kraft. Damals war sein Vater, ein frommer Mann, an einer Blinddarmentzündung qualvoll gestorben. 

 

Auf dem Alten Friedhof in Annaberg-Buchholz. Hier findest Du auch das Grabmahl der berühmten Annaberger Unternehmerin Barbara Uthmann (Bild links).

 

Die Mutter, er und drei jüngere Schwestern waren nun ohne Ernährer und mussten zusehen, wie sie überlebten. Schnell musste Anton erwachsen werden und als ältester Sohn Verantwortung übernehmen. Das tat er auch, wurde Schuster und sehr bald ein guter Handwerker, sogar Meister seiner Zunft. Es war ein hartes Leben. Seine jüngste Schwester starb, gerade mal zwei Jahre alt, bald nach dem Vater an einem ansteckenden Fieber. Eine unglückliche Zeit für seine Familie. Und viele andere, denen es nicht besser ging, genauso.

 

Nein, er hatte diesem Gott, der die Welt so grausam eingerichtet hatte, nichts zu verdanken. Zur Kirche ging er der Mutter zuliebe mit. Weil ihr es Halt und Frieden gab. Ihm nicht.

 

Er war ein guter Mensch, fleissig und hilfsbereit, aber Kirche und Priester brauchte er sicher nicht. Oft war er schon von seiner Mutter oder den Zunftkollegen ermahnt worden, nicht so gottlose Reden zu führen. Selbst Roswitha schimpfte deswegen mit ihm, wenn er lachend an dem goldenen Kreuz zog, das sie um ihren verführerischen Hals trug.

 

Heute jedenfalls, an diesem Sonntag einige Wochen vor Weihnachten, dachte er während des Gottesdienstes wieder an dies und das. Aber nicht an Himmel und Hölle. Einige geschäftliche Überlegungen beanspruchten ihn. Auch dachte er an Roswitha und ihren runden Hintern. Zum Glück konnte keiner seine Gedanken lesen.

 

Als seine Mutter und er nach dem Gottesdienst aus der Kirche traten, wehte ein leichter und milder Wind. Beide beschlossen, zum kürzlich geweihten Friedhof an der Kapelle Richtung Wolkenstein hinüberzuspazieren. Das taten sie dann und erfreuten sich des ungewöhnlich milden Wetters. 

 

Den alte Priester, Pater Sibelius, trafen sie auf den grünen Wegen zwischen jungen Bäumen des neu angelegten Friedhofes. Sibelius war vor einigen Jahren aus dem Böhmischen gekommen. Ein freundlicher, stiller Mann mit guten Augen. Eigentlich mochte Anton ihn.

 

"Gott zum Gruß, Frau Simone. Gott zum Gruß, Meister Anton. Ich hoffe, es geht Euch gut?" Die Mutter antwortete dankbar und ausführlich. Danach schaute Pater Sibelius Anton aufmunternd an. "Meister Anton, so schweigsam? Ich würde mich freuen, Euch zur Beichte zu sehen. Ist schon wieder eine Weile her."

 

Vielleicht lag es ja am milden Wind oder an dem leichten Kopfschmerz, der Anton immer noch plagte. Jedenfalls rief er ungehalten: "Was soll denn der ganze Hokuspokus mit Gott und Tod und Teufel. Wenns drauf ankommt, bin ich auf mich allein gestellt. Von da oben erwarte ich keine Hilfe mehr. Und an das Märchen der Auferstehung glaube ich erst, wenn Ihr es mir beweist, Pater."

 

Die Mutter hatte erschrocken die Hand auf Antons Arm gelegt: "Mein Junge, versündige Dich doch nicht!"

 

Pater Sibelius war ein temperamentvoller Mensch und hatte jetzt die Faxen dicke angesichts solcher Arroganz und Verstocktheit, wie er meinte. "Hier hast Du Deinen Beweis!" rief er. Schwungvoll riss er eine kleine frisch gepflanzte Linde aus dem Boden, drehte das Bäumchen herum und rammte es mit der kleinen Baumkrone tief in die weiche, lockere Erde. Gespenstisch ragte die dunkle Wurzel in die Höhe.

 

"Wenn dieser Baum wächst und im Frühling neue Blätter trägt, dann sollst Du Deinen Unglauben wohl überwinden!"

 

Anton war beeindruckt vom Ausbruch des Alten. Frau Simone hatte das Ganze sehr aufgeregt. Kurz angebunden verabschiedeten sie sich vom Pater und gingen heim.

 

Weihnachten kam. Das alte Jahr wurde verabschiedet, ein neues begann. Es war ein langer Winter, der das Erzgebirge mit Schnee und Eis bedeckte. Zu Ostern war immer noch Frost. Kein Schneeglöckchen zeigte sich.

 

Aber dann, Ende April, begann es zu tauen. Die Bäche füllten sich, die Wiesen leuchteten grün in der Sonne. Erste Blumen und Sträucher blühten. An den Bäumen waren dicke Blattknospen zu sehen. Die Kinder tobten im Schlamm herum und bauten kleine Wasserräder in die Rinnsale und ließen winzige Schiffe fahren. Vögel sangen, vor allem die Amseln flöteten wunderschön. Liebespaare fanden sich. Anton fand ab und zu Roswitha.

 

An so einem Frühlingstag hatte Anton nach einem langen Arbeitstag in der Schusterei beschlossen, einen Abendspaziergang zu machen. Er wollte den Geruch von Leim und Leder aus der Nase kriegen. Ganz in Gedanken ging er durch die Gassen und Wege und stand unversehens vor dem Friedhofstor. Da dachte er wieder an die arme Linde, die der Pater so grob aus dem weichen Erdreich gerissen hatte. Was wohl aus dem Baum geworden war? Neugierig betrat er den Friedhof und suchte nach der Stelle.

 

Es war nicht schwer, die kleine Linde wiederzuerkennen. Sie stand mit einigen ihrer Artgenossen auf der geschützten Wiese an der Kirchhofmauer neben der Kapelle. Alle jungen Bäume reckten ein paar zarte Zweige in die Sonne. Nur die Herausgerissene hatte eine starke Verzweigung, nämlich ihre früheren Wurzeln, unglaublich!.

 

Kleine Blätter wuchsen daran und leuchteten froh in der Sonne. Sie jedenfalls waren auferstanden und schienen im Wind zu tanzen.

 

Anton stand sprachlos, staunte und lächelte dann über den tapferen kleinen Baum. Welche Kräfte ihn, den Baum, doch trotz allem wachsen ließen? Genau wie ihn, Anton!  Was auch immer es war - es war gut.

 

Mit frohem Herzen machte Anton sich auf den Heimweg und brachte seiner Mutter einen kleinen Strauß Frühlingsblumen. Nächsten Sonntag würde er mal zu Pater Sibelius gehen.

 

***

 

Die Linde aber wuchs und grünte.

 

Jedes Jahr trägt sie viele duftende Blüten und ist voller Bienengesumm. Auch in diesem Sommer wieder. Wir haben es selbst gesehen, so wie einst Anton.

 

Der Maulwurf nickt ernsthaft.

 

www.pixabay.com  / Tamarli
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