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Der Geistermönch von Altzella

Sagenhafte Mittagsstunde

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Wie in einer alten Sage berichtet wird, gibt es im Kloster von Altzella in der Nähe von Nossen einen Geist.

 

Er hat die Gestalt eines alten Mönches mit weißem Bart. Nur in der Mittagsstunde ist er gelegentlich im Klostergelände zwischen den Ruinen zu sehen. Meistens sitzt er nachdenklich da.  Wenn man sich ihm allerdings nähert, ist er verschwunden. In einer weißen Rauchwolke. So jedenfalls die überlieferte Geschichte, zu finden in einem Sagenbuch:

 

 

"Der gespenstige Mönch" (Hrsg. Werner Lauterbach / Steffen Wagner)

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An einem sonnigen Herbsttag beschließen wir, der Sache mit dem Gespenstermönch nachzugehen. Ob es ihn vielleicht doch gibt ?

 

Schon bevor man das Kloster erreicht hat, läuft man auf einem bunten Weg an der Freiberger Mulde entlang von Nossen aus nach Altzella.

 

Freiberger Mulde am Kloster Altzella

 

Das Kloster mit seinem alten Park ist zu jeder Jahreszeit ein sehr schöner Ort. Es wurde 1162 von Markgraf Otto dem Reichen gegründet. Mehr zur Klostergeschichte findest Du hier.  In den großen alten Bäumen singen meistens die Vögel. Je nach Jahreszeit sind die Bäume zartgrün, sattgrün, bunt, kahl oder weiß.

 

***

 

 

Wir betreten das Klostergelände durch das schöne Eingangsportal. Auf den uns altbekannten Wegen schnappen wir uns Kaffee und Kuchen. Dann gehen wir durch das Konversenhaus. Hier wohnten früher die Laienbrüder des Klosters. 

 

Nun treten wir in den Klosterpark ein und suchen den Geistermönch.

 

Es ist kurz vor Mittag, die Zeit ist also der Sage nach genau richtig. Ich bin etwas angespannt. Außer Pawel und mir ist niemand im Park zu sehen. Das ist auch das Zauberhafte an diesem ganz normalen Dienstag. Kein Mensch. Die Wirkung des Ortes entfaltet sich voll.

 

Eine ganze Weile spazieren wir durch den Park. Die Sonne scheint. Es ist still. Nur ein paar Kühe sind zu hören, die laut muhen. Die Herbstsonne lässt die Blätter leuchten. Der Himmel ist hoch und fast wolkenlos blau.

 

Wir gehen durch die Ruinen im Inneren des Parks, gucken auch in die alten Gewölbe und Keller hinein. Auch auf der Klosterwiese, an der Weide und im kleinen Garten suchen wir nach dem Geist. 

 

Vergebens. Wir sind allein. Kein Mönch.

 

 

Nach einer Weile bin ich erschöpft und setze mich auf die Wiese. Der Maulwurf in meiner Handtasche ist längst eingeschlummert. Ein sonniger Platz an der Außenmauer des alten Schütthauses lockt auch mich. In den Schütthäusern wurde auf mehreren übereinanderliegenden Böden das Getreide gelagert.

 

Ich lehne mich an die angenehm warmen Steine und spähe in das Ruineninnere. Da ist es durch die langen Schatten der Giebelwand teilweise so dunkel, dass man kaum was sieht. Die Sonne blendet auch noch.

 

 

Plötzlich sehe ich eine Bewegung in der linken dunklen Ecke. Ich erschrecke und freue mich gleichzeitig. Alles ist so unwirklich. Ein Geist am hellen Mittag. Kann das sein ? "Geistes-gegenwärtig" greife ich zum Handy, um schnell ein Foto zu machen. Es gelingt auch. Weil es aber so blendet, sehe ich nicht, was ich fotografiere. Ich halte einfach drauf.

 

Da höre ich ein leises Kichern. Und eine Stimme spricht: "Das wird wohl nix."

 

Ich bin erstarrt und lehne an der Steinmauer. Mit aufgerissenen Augen starre ich in die schattige Ruine. In die Ecke, aus der die Stimme kam ! Ich bin mir nicht sicher, dafür aber äußerst gespannt. War das der Mönch ? Haben wir ihn gefunden ?

 

 

"Du musst keine Angst haben, hast mich ja schließlich gesucht, oder ?" spricht die tiefe Stimme weiter.

 

Ich weiß, dass das so nicht stimmen muss und folge dieser Logik nicht. Schon oft habe ich etwas gesucht. Und als ich es dann gefunden hatte, war es nicht das, was ich wollte. Also war ich lieber vorsichtig jetzt.

 

Und auch weiter sehe ich nichts im blendenden Sonnenlicht. Ich blinzele und sage dann: "Hallo, guten Tag. Bist Du der berühmte Mittagsmönch ?"

 

Aus dem Schatten tritt jetzt eine hohe schlanke Gestalt hervor. Freundliche Augen schauen mich aus einem zerfurchten, gebräunten Gesicht an. Und er hat wirklich einen weißen, dichten Bart. Ich habe großen Respekt und bin ganz still.

 

"Wenn Du so willst, bin ich das, ja. Aber eigentlich heiße ich Bruder Eberhard."

 

Ich stelle mich kurz vor. Aus meiner Tasche ist nun auch der Maulwurf aufgetaucht und sagt seinen Namen. Erstaunlicherweise ist Eberhard nicht überrascht. Als Geist hat er sicher schon so einiges erlebt, wovon andere nur träumen können. Wahrscheinlich deshalb wundert ihn auch ein sprechender Maulwurf am hellen Tag nicht. Jedenfalls ist ihm nichts anzumerken.

 

Bruder Eberhard sieht so aus, wie der kleine Moritz sich einen Mönch vorstellt. Asketisch, klug, kraftvoll. Der Geist wirkt überhaupt nicht durchsichtig, sondern sehr real. Am liebsten würde ich ihn mal ins Bein kneifen, traue mich aber nicht. Ich fürchte, Pawel wägt Ähnliches ab. Ich hoffe, des Maulwurfs Höflichkeit siegt über seine grenzenlose Neugierde.

 

Der Mönch trägt die Tracht der Zisterzienser, weiße Kutte mit schwarzem Überwurf. Natürlich ist er schlank, denn die Zisterzienser haben sich Bescheidenheit, Einfachheit und Arbeit mit eigenen Händen auf die Fahnen geschrieben. Das unterscheidet sie von ihren Vorgängern, den Benediktinern. Aus denen haben sie sich ausgegründet, als das Benediktinerleben recht prächtig und unreligiös geworden war. Das hat nicht allen gefallen. Sie wollten etwas ändern und gründeten einen neuen Orden. Ein sehr bekannter Mann des neuen Ordens der Zisterzienster war Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert.

 

Eberhard wirkt freundlich, aber auch sehr engagiert. Ein kraftvoller, sympathischer Geist.

 

 

Konversenhaus, Wohnort der Laienbrüder und einst Herberge der Klosterbibliothek

 

Ich frage ihn vorsichtig, wie er denn zum Geist geworden sei. Er lacht und sagt: "Das ist für mich keine schwierige Frage, Du brauchst nicht so umständlich zu sein. Geist kannst Du mich ruhig nennen; aber bitte nicht Gespenst. Das klingt so albern nach Bettlaken und klirrenden Ketten....".

 

Dann erzählt er uns seine Geschichte:

 

Als junger Mann im Alter von 25 Jahren war Eberhard in das Kloster Altzella eingetreten. Er suchte einen Neuanfang und wollte vor allem vergessen. Eberhard wünschte sich ein gutes, ehrliches Leben und eine Möglichkeit, sich mit den verschiedenen Wissenschaften zu beschäftigen und etwas zu lernen.

 

Bisher hatte er als Böttcher gearbeitet und bei Naumburg eine eigene kleine Werkstatt gehabt. Auch eine Familie, seine Frau Magdalene, seinen Sohn Thomas und seine Mutter, hatte er. Dann kam die Pest und tötete alle, bis auf ihn. Eberhard war verzweifelt und wäre selbst fast gestorben, vor Kummer. Aber dann raffte er sich wieder auf, verließ seine alte Heimat und ging auf Wanderschaft durch das teilweise entvölkerte Land.

 

Das war 1490, noch bevor ein Mann namens Martin von Lochau Abt von Altzella wurde. Ein Humanist und an Bildung interessierter Mann, der im Obergeschoss des Konversenhauses eine Bibliothek einrichtete und deren Bestand ständig erweiterte.

 

Eberhard machte erst als Laienbruder jede Arbeit, die ihm zugewiesen wurde. Er war geschickt, geduldig und freundlich. Manchmal fühlte er sich einsam. Bei ihm dauerte es immer lange, ehe er Vertrauen und Freundschaft zu anderen Menschen empfinden konnte.

 

Später war er in der Schreibstube des Klosters und lernte das Anfertigen von Büchern, vor allem deren Verzierung mit Illustrationen. Unter Abt Martin konnte er diese Kunst verfeinern und sich ganz den Büchern und der Klosterbibliothek widmen. Und ein richtiger Mönch werden. Ein gutes Leben. Manchmal dachte er an seine tote Familie.

 

Zwar fehlten ihm ab und zu die Frauen, aber, so sprach er: "Etwas ist halt immer". Wie wahr.

 

Eberhard gefiel das Muldental hier sehr. Bald fühlte er sich zu Hause. Deshalb blieb er in Altzella. Viele Jahre. Er erlebte die Blütezeit des Klosters und seinen Niedergang nach der Reformation. Nach der Säkularisierung im Jahr 1544 war er tief traurig. Fast sein ganzes Leben hatte er hier im Kloster verbracht und sollte es nun verlassen. Er war ein alter Mann. Aber auch ein Mönch und Mensch voller Hoffnung und Zuversicht, auch in Zeiten des Umbruchs, wie damals nach der Reformation. Also packte er schweren Herzens seine wenigen Sachen und wollte am nächsten Tag die Reise in ein weit entferntes Kloster im Süden Deutschlands antreten.

 

Schlaflos war er in dieser letzten Nacht in Altzella. Der Abschied lastete auf ihm wie ein Stein. Der Wind pfiff um die Mauern der Gebäude.

 

Am anderen Morgen, einem kalten und wieder windigen Novembertag einige Wochen vor Weihnachten, fanden ihn seine wenigen noch verbliebenen Mitbrüder. Bruder Eberhard lag tot auf seinem Lager.

 

Alle hatten es eilig, wollten sie doch gemeinsam an diesem Tag in ihr neues und noch ungewisses Leben aufbrechen. Trotzdem begruben sie Eberhard an der Klostermauer, in der Nähe des muldenseitigen Törchens, in Ruhe und sprachen ein Gebet. Diesen Platz hatte der alte Mönch besonders gern gehabt, das wussten einige.

 

Danach brachen sie auf. Eberhard blieb hier. Er war ja tot. Dachte er. Dachten alle.

 

Aber das stimmt nicht so ganz. Aufgefallen war ihm das zuerst selber, zum Glück.

 

Es war so, als ob er erwachte. Aber nicht im Bett, sondern er stand auf einmal am frühen Morgen im Schnee an der Klostermauer. Der Himmel dämmerte rosaorangegrau - die Sonne würde bald aufgehen. Eberhard berichtet:

 

"Plötzlich stehe ich dort, an der Klostermauer neben dem kleinen Tor. Neben meinem eigenen Grab. Erst war mir das nicht bewusst. Bis ich merkte, das ich mich frei und leicht fühlte, schnell bewegen konnte, schnell denken konnte und - ein Geist war. Da habe ich es begriffen. Vor Schreck bin ich eingeschlafen und erst Tage später wieder aufgewacht, mitten in der Nacht. Was ja aber als Geist egal ist. Es wartet ja keiner auf einen. Aber diese Nacht war Weihnachten. Und ich war in meinem Kloster. Ich fühlte mich glücklich und beschloss, immer an diesem Ort zu bleiben, der nun verlassen und einsam war."

 

Er nickt in Gedanken.

 

"Ja, so bin ich seit dieser Zeit hier. Nun schon fast fünfhundert Jahre. Und wenn ich an so einem Herbsttag wie heute mittags hier sitze, dann weiß ich, ich will das weitere fünfhundert Jahre so machen." Er lächelt. Ich denke: Er sitzt hier und lächelt. Und doch hat er alles mit angesehen in diesen Jahrhunderten. Die endgültige Aufgabe des Klosters, seinen teilweisen Abbruch. Das Wegschleppen der alten Ziegelsteine für neue Bauzwecke, den Bau des neuen Mausoleums und die Begräbnisse, das Pflanzen des Parks, die Pflege des Gartens und das neu erwachende Interesse von Besuchern dieses Ortes. Die schönen Konzerte in neuer Zeit.

 

Und was alles noch. Mehrere Kriege. Heimliche Liebespaare. Spielende Kinder. Heilige Räume wurden zu Ställen, zu Werk- und Lagerstätten. Dann wieder umgekehrt.

 

Ich beneide ihn. Er ist so ganz für sich und ganz bei sich. Und trotzdem kein vergebliches Gespenst, sondern ein wacher Geist. Seine Geschichte, aus der sein Hiersein folgt, verstehe ich. Ich kann zwar auch nicht erklären, wie genau er zum Geist wurde, aber das muss ich ja jetzt auch nicht.

 

Aber eins verstehe ich noch nicht. Ich frage ihn. "Bruder Eberhard, wie hängt es denn zusammen, dass man Dich immer nur mittags hier sieht ?"

 

Er rollt leicht die Augen und sagt: "Na, nachts schlafe ich. Und früh morgens, wenn meine Lieblingszeit ist, da ist hier noch kein Mensch, der mich sehen könnte. Außerdem bin ich vorsichtig, will ja keinen erschrecken um die Zeit. Aber mittags, wenn hier einige Besucher herumschlendern, dann mache ich mir manchmal den Spaß, ja. Ich verblüffe sie nur ein wenig und haue dann ab. Das mit der Rauchwolke ist ein Gerücht, wäre mir persönlich zu albern und auch etwas unappetitlich."

 

Wir schauen uns an und lächeln alle drei. Wir haben uns verstanden. Die Mittagssonne flirrt, trotzdem es schon Herbst ist. Eberhard verabschiedet sich von uns und verschwindet winkend hinter dem Konversenhaus. Sicher will er nochmal in die obere Etage, wo früher seine geliebte Bibliothek war.

 

Es ist warm. Ich überlege, wieviele Jahre Eberhard jetzt genau schon ein Geist ist. Seit November 1544.......

 

***

 

Einer von Bruder Eberhards Lieblingsplätzen: Die kleine Pforte in der Klostermauer zur Mulde hin.

 

Mit einem Ruck werde ich wach. Vor mir steht die nette Dame aus dem kleinen Klostercafé, die immer guten Kaffee und leckere Leuteritzer Eierschecke für uns hat. "Na, Sie haben aber gut geschlafen. Wir schließen gleich." ermahnt sie nur mich. Denn Pawel kann sie nicht sehn. Die kleine Schlafmütze ist in der Tasche.

 

Ich stehe auf und strecke mich. Vor uns liegt der schöne Rückweg an der Mulde entlang nach Nossen. Wir brechen auf. Ich schnappe mir beim Losgehen noch einen reifen Apfel von einem der Klosterbäume. Der berühmte Ordensgründer und Abt Bernhard von Clairvaux, von dem wir vorhin schon gesprochen haben, sagte einst: "Den Garten des Paradieses betritt man nicht mit den Füßen, sondern mit dem Herzen." Das gilt für uns auch für Altzella, den wunderschönen Klosterpark.

 

***

 

Der Maulwurf wacht erst auf, als ich ihn zuhause vorsichtig aufs Sofa setze. Er blinzelt mich an und erzählt mir, dass er von einem Geist geträumt hat. "Der hat Eberhard geheißen und war Mönch in Altzella ! Stell Dir vor."

 

Ich lächle und sage nichts. Entweder haben wir beide das Gleiche geträumt - oder es ist wirklich so passiert. Was meinst Du ?

 

Übrigens hat Eberhard Recht behalten. Auf meinem Foto vom Schattendunkel in der Schütthausruine hat er in der Ecke links hinten gestanden, ganz sicher. Aber zu sehen ist er nicht, oder ?